Die erste Corona-Welle vor einem Jahr war die Stunde der Exekutive und der Regierungsparteien. Mit jedem Pandemiemonat, in dem Grundrechte ausgesetzt werden, wächst die Bedeutung der Opposition als Kontrollinstanz. Ein Glück fürs Land, dass drei von vier Nichtregierungsparteien im Bundestag diesen Job derzeit ordentlich ausfüllen.
„Sie sind der Auffassung, im Großen und Ganzen sei nichts schiefgelaufen“, rief der Fraktionschef der Linken, Dietmar Bartsch, der Kanzlerin am Donnerstag nach deren Regierungserklärung zu. Viele Menschen sähen das anders, und zwar zu Recht: „Vom Pandemieweltmeister sind wir abgestiegen in den Impfkeller.“ Mehr Selbstkritik statt Selbstgefälligkeit stünde auch einer Kanzlerin gut. Seine Kollegin von den Grünen bemängelte: 100 Tage mussten Unternehmerinnen und Unternehmer warten, bis jetzt endlich die Novemberhilfen fließen. Sie könne angesichts der Schäden für die Wirtschaft heute nicht „Halleluja“ rufen, sagte Katrin Göring-Eckardt.
Eine Schlüsselrolle allerdings kommt derzeit der FDP zu. Ihr Leitmotiv, die Freiheit, steht unter Druck wie nie. Sei es nun in Gestalt der freien Märkte oder der freien Bürger. Dass diese Freiheiten derzeit eingeschränkt werden, ist mit Blick auf den Gesundheitsschutz sicherlich richtig. Ebenso richtig ist es aber, nicht jeden Eingriff des Staates kommentarlos verstreichen zu lassen. Wer Grundrechte beschneidet, muss das ein ums andere Mal rechtfertigen. Nichts wäre fataler als ein Gewöhnungseffekt an den Pandemiestaat. So lagen die Liberalen mit ihren forschen Lockerungsforderungen zwar bisweilen daneben – zwangen damit aber die Regierenden, maßzuhalten und ihre Argumente nachzuschärfen.
Die FDP verteidigt Bürgerinnenrechte, ohne links zu werden. Freiheit ganz ohne Umverteilung: Auf diese schlanke Formel brach der SPD-Linke Kevin Kühnert kürzlich sinngemäß die Funktion der Liberalen herunter, im Bewusstsein um deren Wichtigkeit. Man muss ihre Positionen nicht teilen, um die Partei zu respektieren.
Sachpolitik statt verbaler Eskalation
So viel zum Verhältnis der Partei zu den Linken. Entscheidender ist aber der Auftrag der Liberalen auf der anderen Seite des politischen Systems. Nach rechts muss die FDP die Freiheit gegen ihre falschen Anwälte von der AfD behaupten. Die spielt sich in der Pandemie als Verteidigerin des Grundgesetzes auf. Was für eine Farce! Die FDP misstraut dem Staat, die AfD verachtet die Republik. Den Unterschied deutlich zu machen, ist eine durchaus heikle Operation: prägnante Regierungskritik, ohne abzurutschen in den Duktus der Corona-Leugner, die den Freiheitsbegriff banalisieren zur Freiheit, ohne Maske durch den Supermarkt zu husten.
Statt rhetorisch zu eskalieren, treiben die Liberalen Union und SPD deshalb oft mit Sachpolitik. Sei es mit ihrer alten Forderung zum Verlustrücktrag für Unternehmen – wozu sich der Koalitionsausschuss dann vor einer Woche durchrang. Oder mit ihrer frühzeitigen Warnung, dass die Auszahlung der Hilfsgelder hake. Einen Impfgipfel hatten die Liberalen gewollt, lange bevor sich die Runde tatsächlich mit der Kanzlerin zusammenschaltete. Bis heute wird in Deutschland übrigens nicht nach einem Gesetz geimpft. Das Infektionsschutzgesetz verweist auf die Ständige Impfkommission, ein Expertengremium. Den Rest regeln Verordnungen. Wobei eine parlamentarische Beteiligung, die unter anderem die FDP anmahnt, die Akzeptanz vermutlich steigern würde.
In Bayern drohten die Liberalen zuletzt mit einer Klage gegen die landesweite nächtliche Ausgangssperre – ist das Virus nach 21 Uhr besonders ansteckend? Wohl auch weil parallel ein Gericht in Baden-Württemberg eine ähnliche Verordnung kippte, weichte die Staatsregierung in München ihre Regel am Donnerstag deutlich auf. Und bevor die Bund-Länder-Runde den Lockdown lockerte (nach dem Prinzip: Friseure zuerst und Schulen jedes Land, wie es will), hatte die FDP einen siebenstufigen Plan vorgelegt, der anhand von Infektionsindizes so etwas wie ein Ziel umreißt, das die Gesellschaft zum Durchhalten motivieren könnte.
Dass die Grünen in ihrer Kritik bisweilen zahmer daherkommen wie etwa neulich Fraktionschef Anton Hofreiter, hat weniger damit zu tun, dass sie den künftigen Koalitionspartner pfleglich behandeln wollen, was ihnen gern unterstellt wird. Wenn ein guter Teil der Regierungspolitik im Einklang liegt mit den eigenen Überzeugungen, warum dann künstlich aufregen? Zumal die Grünen ihren Einfluss auf die Corona-Politik weniger über ihre Rolle als lautstarke Opposition im Bundestag markieren. Als Koalitionspartner in elf der 16 Landesregierungen prägen sie die Ergebnisse jeder Ministerpräsidentinnenkonferenz.