Der FDP-Generalsekretär Dr. Volker Wissing hielt auf dem 72. Ord. Bundesparteitag der Freien Demokraten in Berlin folgende Rede:
Frau Präsidentin, liebe Parteifreundinnen, liebe Parteifreunde. Die Pandemie, sie ist ein Stresstest, nicht nur für unsere Demokratie, sondern für unsere gesamte Gesellschaft. Und sie wird uns noch lange beschäftigen. Vielleicht, weil neue Mutationen auftauchen und die Impfungen wiederholt werden müssen. Ganz sicher aber, weil die sozialen, kulturellen, finanziellen und wirtschaftlichen Folgen uns noch viele Jahre beschäftigen werden.
Nie gab es mehr zu tun. Aber was ist der richtige Weg? SPD, Grüne und Linke sagen, man müsse die Steuern erhöhen, um dem Staat mehr Möglichkeiten zu geben. Uns überzeugt das nicht. Wir sehen die Bedeutung öffentlicher Investitionen: Überall wo wir mitregieren, sind wir treibende Kraft, etwa beim Infrastrukturausbau oder bei Bildungsinvestitionen. Wir sehen aber auch die Notwendigkeit privater Investitionen: In Forschung und Entwicklung, damit wir die Apotheke der Welt bleiben, in neue Antriebstechnologien, damit Mobilität und Klimaschutz nicht zu Gegensätzen werden, in Digitalisierung und künstliche Intelligenz, damit unser Industriestandort mit seinen hohen Beschäftigungszahlen Teilhabe und Wohlstand sichern kann oder in die vielen Familienunternehmen, damit wir das Land des innovativen Mittelstands und der Hidden Champions mit tausenden von Arbeitsplätzen bleiben.
Wer unsere Wirtschaft in dieser Situation mit höheren Steuern belasten will, muss die Frage beantworten, wie dann private Investitionen finanziert werden sollen. Und wenn diese Investitionen ausbleiben, stellt sich die Frage, wie sich der Staat dann nachhaltig finanziert möchte. Wenn keiner außer uns mehr daran erinnert, dass alles was der Staat ausgibt, vorher von den Bürgerinnen und Bürgern erwirtschaftet werden muss, dann müssen wir das um so lauter tun. Wir übersehen nicht den Finanzbedarf des Staates. Wir sehen aber, dass der Staat in eine Schieflage gerät, wenn er durch immer höhere Ausgaben private Investitionen erschwert oder verzögert und dadurch an dem Ast sägt, auf dem seine Einnahmen ruhen.
Und nachdem ich nun fünf Jahre auch Agrarminister war, erinnere ich alle, die wieder einmal nach Vermögenssteuern rufen, daran, dass es ein dauerhaftes Miteinander von Bauer und Kuh nur geben kann, wenn der Bauer melkt anstatt zu schlachten. Nachhaltigkeit ist immer auch ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Das gilt in der Forstwirtschaft genauso wie in der Haushalts- und Finanzpolitik. Und nachhaltigen Finanzen schafft man nur, wenn sich der Staat mit angemessenen Ertragssteuern finanziert, damit Unternehmen investieren, auch in Zukunft Beschäftigung anbieten und Steuern zahlen können. Und neben diesen wirtschaftlichen Überlegungen bedeuten höhere Steuern für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer auch Freiheitseinschränkungen. Leistung darf nicht wegbesteuert werden. Das gilt gerade auch in schwierigen Zeiten, weil es die Leistung der Menschen ist, die unseren Staat trägt und auf die wir angewiesen sind, wenn wir die großen Herausforderungen unserer Zeit stemmen wollen.
Und ich würde mir wünschen, dass auch die SPD sich wieder stärker in Erinnerung ruft, welchen herausragenden Anteil die Facharbeiterinnen und Facharbeiter am wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes haben. Auch sie haben ein Recht auf faire Besteuerung. Und sie warten schon lange darauf.
Wir müssen die Klimaziele erreichen, unsere demographische Entwicklung bewältigen, die Transformation unserer Wirtschaft stemmen, die Energiewende zu einem Erfolg machen und unser Land konsequent digitalisieren. Wir sind optimistisch, dass wir das schaffen. Nicht weil wir übermütig sind, sondern weil wir auf das setzen, was unser Land schon immer stark macht: die Kreativität der Vielen, der Kulturschaffenden, der sozial Engagierten, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Verantwortlichen in Unternehmen, der Ingenieurinnen und Ingenieure, der treuen und zuverlässigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst, der Menschen im Ehrenamt. Unsere Gesellschaft ist stark in ihrer Vielfalt. Und sie kann diese Stärke dann voll nutzen, wenn die Menschen ihren Weg frei wählen, wenn sie für sich den richtigen Weg suchen und finden können. Und wenn an der Spitze der faire Wettbewerb und nicht die Politik über die beste Lösung entscheidet. Deshalb stehen wir für eine Chancengesellschaft.
Jede und Jeder muss die Chance auf weltbeste Bildung haben. Und das in allen Lebenslagen. Nichts macht die Menschen freier, als der Zugang zu Wissen und die Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten zu nutzen. Deshalb wollen wir rechtliche Hürden zur Bildungsfinanzierung abbauen, und in ganz Deutschland mehr investieren. Wenn Bildungschancen in einem der reichsten Länder der Welt scheitern, weil Regeln es dem Bund untersagen, sich stärker finanziell zu engagieren, muss man die Regeln ändern.
Jeder muss die Chance haben, seinen ganz eigenen Traum vom Glück zu leben und zu lieben wen und zu glauben, was er will. Jeder muss die Chance haben, sich in der Gesellschaft geborgen zu fühlen, ohne sich dazu vom Staat in die Form eines Musterbürgers pressen zu lassen. Jeder muss im Alter leben und wohnen können, wie er will.
Jede Generation muss die Chance haben, auf der Grundlage natürlicher Ressourcen zu wirtschaften und gesund zu leben. Deshalb ist der Klimaschutz für uns die Wahrnehmung von Verantwortung für künftige Generationen. Und dabei sind wir besonders ambitioniert, weil wir die maximal zulässige CO2-Emissionsmenge gesetzlich vorschreiben wollen. Nur so werden die Klimaschutzziele garantiert und nicht nur eventuell erreicht. Weshalb ausgerechnet die Grünen hinter diesen Ambitionen zurückbleiben, bleibt deren Geheimnis.
Jede Idee muss die Chance haben, groß zu werden. Deshalb wollen wir, dass nicht der Staat Technologien mehrheitlich auswählt, sondern der Wettbewerb darüber entscheidet, wer etwa die vorgegebenen Klimaschutzziele am besten erreicht. Ein Verbot von Verbrennungsmotoren macht keinen Sinn, wenn diese mit synthetischen Kraftstoffen klimaneutral betrieben werden können. Die grüne Fixierung auf Elektromobilität ist nicht nur schädlich, sie ist uns auch nicht ambitioniert genug. Wir wollen die Chance nutzen, Klimaschutz im Wettbewerb der Technologien zu erreichen, weil wir davon überzeugt sind, dass uns die Technologie von morgen mehr bietet als die von heute.
Jeder muss die Chance auf Mobilität haben, in den Städten und auf dem Land. Deshalb greift der Verweis auf ÖPNV-Angebote zu kurz. Ohne Individualverkehr sind Mobilität und damit Teilhabe in ländlichen Räumen undenkbar. Und für uns gehört zur Mobilität in einer modernen Gesellschaft auch der Flugverkehr. Die Grünen haben gerade im Deutschen Bundestag einen Antrag gestellt. Experten sagen, wenn das umgesetzt würde, würden 90 Prozent aller Flüge künftig faktisch verboten werden. Ich sage an der Stelle einmal danke an die Grünen, so langsam werden deren Pläne doch noch konkreter. Wir sehen darin aber keinen Gewinn für eine moderne Gesellschaft. Schon gar nicht, wenn man bedenkt, dass unser international vernetzter Wirtschaftsstandort ohne Luftfrachtverkehr schwer vorstellbar ist.
Jede Generation muss die Chance haben, aufgrund solider Staatsfinanzen selbst handeln und gestalten zu können. Sie darf nicht von Schuldenbergen erdrückt werden. Deshalb ist neben der Frage der Steuerbelastung auch die Frage solider öffentliche Haushalte für uns nicht verhandelbar. Die Schuldenbremse, sie wurde von Freien Demokraten gefordert und durchgesetzt. Sie hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Staat in der Pandemie handlungsfähig war. Und weil wir auch in Zukunft einen handlungsfähigen Staat wollen, lehnen wir eine Aufweichung der Schuldenbremse ab.
Und so gut der hunderte von Milliarden schwere Klimafonds der Grünen gemeint sein mag, verantwortbar ist er nicht. Wir haben eine nach wie vor kaum bewältigte europäische Staatsverschuldungskrise, die nur durch Bürgschaften unter Kontrolle gebracht werden konnte. Wir leiden unter der Niedrigzinspolitik infolge dieser Krise und mit dem europäischen Wiederaufbaufonds wurden weitere Schulden aufgebaut. Wir finden, es ist an der Zeit, dass der Politik mehr einfällt als immer mehr Schulden. Und es stimmt auch nicht, dass neue Schulden wegen der niedrigen Zinsen kein Problem seien. Die Zinsen sind nämlich so niedrig, weil die europäischen Staaten so verschuldet sind. Wenn man meint, darauf mit noch mehr Schulden reagieren zu können, zementiert man die Niedrigzinspolitik und schadet Europa dauerhaft. Richtig ist es, dass der Staat solide haushaltet, damit die Niedrigzinspolitik beendet werden kann. Sie darf nicht zum politischen Selbstbedienungsladen werden, denn sie belastet unser Land enorm, insbesondere die für uns wegen der demographischen Entwicklung so wichtige private Altersvorsorge.
Bei allen großen Zielen und Herausforderungen ist für uns klar, der Auftrag lautet: Die Gesellschaft muss zusammenhalten.
Jeder muss die Chance haben, sein Glück zu finden, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Religion. Die junge Familie, die vom Eigenheim träumt und für die ein Freibetrag bei der Grunderwerbssteuer viel bedeutet, der Single, der seine Wohnung liebt, auch wenn andere sie zu groß finden, die Menschen mit Behinderung, für die Barrierefreiheit der Weg zur Teilhabe ist, diejenigen, die Risiken meiden und sich in sozialer Sicherheit freier fühlen, genauso wie diejenigen, die das Risiko suchen, weil sie darin mehr Möglichkeiten für sich und andere sehen, und für die der Wettbewerb Anreize bietet, große Dinge zu entwickeln, von denen sie selbst und viele andere alle profitieren.
Die Entwicklung des BionTech-Impfstoffs ist ein aktuelles Beispiel. Alle müssen ihren Platz in unserer Gesellschaft finden. Aber nicht, indem sich alle einander anpassen, sondern indem wir Unterschiede akzeptieren und allen ein Angebot machen.
Mit wem wollen wir das umsetzen? Die Grünen wollen neue Rekordschulden machen und am liebsten gemeinsam mit der SPD die Steuern kräftig erhöhen. Wir wollen beides nicht. Aber während die Union bereits bei ihrer Programmarbeit anfängt, sich den Grünen anzupassen, halten wir es für sinnvoller, das zu beschließen, was wir für richtig halten. Uns beschäftigt die Frage, in welche Richtung Deutschland regiert werden soll.
Es stimmt, dass wir voraussichtlich nicht ohne andere regieren können. Andere vielleicht aber auch nicht ohne uns. Jedenfalls dann nicht, wenn unser Land auf den Kurs der marktwirtschaftlichen Erneuerung und Modernisierung gebracht werden soll. Deutschland steht vor einer Richtungswahl.
Das klingt pathetisch, ist aber ein gutes Signal an die Bürgerinnen und Bürger, denn nicht immer können sie eine so grundlegende Entscheidung über die Entwicklung unseres Landes treffen. In den letzten 16 Jahren hat man quasi nach jeder Bundestagswahl immer die Politik Angela Merkels bekommen. Jetzt werden die Dinge neu gemischt.
Ich werde oft gefragt, wie ich mir die derzeitige Stärke der Freien Demokraten erkläre. Eine Journalistin formulierte es diese Tage noch charmanter. Sie fragte: Warum glauben Sie, liegt die FDP derzeit nur bei 12 %? Mir lag auf der Zunge zu sagen, es handle sich offensichtlich um einen Zahlendreher, aber – Spaß beiseite – Ich habe ihr geantwortet: Es ist das, was wir im Namen tragen, und was die Menschen plötzlich so sehr vermissen: die Freiheit.
Viele hätten sich nicht vorstellen können, wie schnell und leichtfertig Freiheit in unserem Land verloren gehen kann. Grundrechte hat man zu Privilegien erklärt. Ihre Einschränkung wurde zur Eilsache, ihr Schutz zur Nebensache. Manche haben den Eindruck vermittelt, das Grundgesetz müsse in einer Krise irgendwie politisch ergänzt oder neu interpretiert werden. Dabei sind unsere Grundrechte individuelle Freiheitsrechte. Sie gelten auch in Krisenzeiten. Jeder Einzelne kann sich auf sie berufen. Und sie dürfen nur ausnahmsweise, nur soweit und nur solange eingeschränkt werden, wie unbedingt nötig. Das ist klar geregelt und musste doch gegen erheblichen Widerspruch verteidigt werden. Und ebenso klar geregelt ist auch die Zuständigkeit unserer Verfassungsorgane. Eine Ministerpräsidentenkonferenz, die für uns entscheidet, kennt das Grundgesetz nicht. Bei allem Verständnis für die Gefahren dieser Pandemie: Der Staat hat neben unserer Gesundheit auch unsere Freiheit zu schützen. Und auch in Krisenzeiten – oder gerade in Krisenzeiten gilt: Unsere Verfassungsorgane sind keine Formsache.
Unsere Demokratien in Europa sollen der Welt als Vorbild dienen. Wir treten den totalitären Systemen mit dem moralischen Anspruch gegenüber, moderne Rechtsstaaten zu sein, in denen Regierungen auf Zeit und in den Grenzen unserer Verfassungen und des von den Parlamenten vorgegebenen Rahmens handeln. Europa muss ein Raum der Freiheit und des Rechts sein. Diese Überzeugung verbindet uns als Wertegemeinschaft. Diesem Anspruch müssen wir gerecht werden, er muss gelebter Alltag und Selbstverständlichkeit sein.
Man kann gute Gründe finden, die Zuständigkeit für die Gesundheitspolitik von den Mitgliedstaaten auf die europäische Ebene zu verlagern. Die Pandemie hat uns gerade vor Augen geführt, dass ein Virus innereuropäische Grenzen nicht kennt. Aber eine solche Entscheidung haben die zuständigen Verfassungsorgane nie getroffen. Im Gegenteil: In Europa gilt die alleinige Verantwortung der Mitgliedstaaten für die medizinische Versorgung, einschließlich der Finanzierung der Leistungen.
Es macht einen Unterscheid, ob wir in unseren Parlamenten über die Verlagerung von Kompetenzen entscheiden, oder ob das Regierungen alleine tun, weil sie es – aus welchen Gründen auch immer – für richtiger halten. Und die gegenwärtige Pandemie ist kein Einzelfall: Schon die Bewältigung der Finanz- und der Flüchtlingskrise erweckte mindestens den Eindruck, dass die Anwendung des zuvor verabschiedeten Rechtsrahmens für die Regierungen jedenfalls keine ernsthafte Option war.
Ein Raum der Freiheit und des Rechts darf keine Schönwetterdemokratie sein. Weder der Zweck noch die guten Absichten heiligen die Mittel. Und wenn das Recht so schlecht ist, dass man es in der Krise nicht für eine Option hält, brauchen wir bessere Regelungen. Auch dafür tragen Regierungen Verantwortung.
Wir müssen Europa auf dem Fundament weiter bauen, das uns unterscheidet: auf dem Fundament des gelebten Rechtsstaats, der strikten Gewaltenteilung und der Souveränität freier Bürgerinnen und Bürger. Nur dann haben wir der zunehmenden wirtschaftlichen Stärke der uns herausfordernden Systeme dauerhaft eine eigene Überlegenheit entgegenzusetzen.
Die Freiheit, sie stirbt langsam. Und weil es so wenige Stimmen gibt, die sie verteidigen, ist unsere um so wichtiger. Lassen Sie uns gemeinsam in den bevorstehenden Bundestagswahlkampf ziehen. Als starkes Team unterschiedlichster Frauen und Männer, mit Christian Lindner an der Spitze. Er ist ein Glücksfall für die Freien Demokraten, weil er unserer politischen Idee und unserer Haltung eine so starke und hörbare Stimme gibt.
Ich bin stolz auf unsere Partei, weil wir uns nicht über die Kritik an anderen definieren, sondern über unsere Haltung. Wir unterstellen den demokratischen Mitbewerbern auch keine schlechten Absichten, sondern machen mit unserem Programm ein Angebot, das wir für besser halten. Wir treten nicht an, um anderen ins Bundeskanzleramt zu verhelfen. Wir wollen dafür sorgen, dass unser Land nicht in die blinde Staatsgläubigkeit abdriftet, die eine Gesellschaft in Wahrheit lähmt, anstatt sie zu stärken.
Wir wollen nicht, dass freie Bürgerinnen und Bürger schleichend zu Untertanen werden, denen Regierungen Rechte als Privilegien gewähren, und wir wollen nicht, dass die Menschen zum Verzicht gezwungen werden, weil ihnen pessimistische Politik die Chance verweigert, im Wettbewerb der Ideen, Klimaschutzziele und Freiheit miteinander zu verbinden. Das, meine Damen und Herren, sind wir. Freie Demokraten!