WISSING-Gastbeitrag: Moderne Politik funktioniert auch ohne Volksparteien

WISSING-Gastbeitrag: Moderne Politik funktioniert auch ohne Volksparteien

Dr. Volker Wissing
Dr. Volker Wissing

Der FDP-Generalsekretär Dr. Volker Wissing schrieb für „Die Welt“ (Montag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Es galt als Aufgabe der sogenannten Volksparteien, einer breiten Schicht von Wählerinnen und Wählern ein Angebot zu machen. Während die kleineren Mitbewerberinnen als politische Spezialitätenläden fungierten, waren die Volksparteien eine Art politischer Supermarkt. Die Wählerinnen und Wähler konnten Grundlegendes von ihnen erwarten. Wem das zu wenig ambitioniert war, fand beim kleineren Anbieter Spezielleres.

Das Miteinander zweier Vollsortimenter mit Spezialanbietern hat unserem Land Jahrzehnte stabile Verhältnisse beschert. Es schützte uns vor rechtem und linkem Extremismus, weil Union und SPD jeweils dafür sorgten, dass neben ihnen kein Platz für extreme Parteien blieb.

Das hat bestens funktioniert, bis beide Volksparteien anfingen, ihr Angebot zu bereinigen. Zuerst die SPD, indem sie unter Gerhard Schröder das sozialdemokratische Angebot der Nachfrage der Wirtschaft anpasste. Später folgte die Union, als Angela Merkel das konservative Lager systematisch räumte, weil aktuelle Meinungsumfragen ihr signalisierten, dass andere Dinge in Mode waren.

Bei der SPD war es die – durchaus vernünftige – Hartz-IV-Politik, die von vielen ihrer Stammwählerinnen und -wählern als Verrat am Kern der Sozialdemokratie empfunden wurde. Gerhard Schröder ist es nie gelungen, der SPD die von ihm anvisierte „Neue Mitte“ zu erschließen. Stattdessen kam es zum Bruch mit vielen traditionellen Unterstützern. Die SPD schaffte es nicht mehr, diese Gruppen an sich zu binden. Es entstand die Linkspartei, die zur Fragmentierung des linken Parteienspektrums führte. Die SPD ist seitdem nur noch eine linke Partei unter anderen.

Auch die CDU hat unter ihrer Vorsitzenden Angela Merkel eine Neuausrichtung in Angriff genommen. Frau Merkel ging dabei sowohl diskreter als auch effizienter vor als Gerhard Schröder. Anders als er sprach sie nicht öffentlich über neue Wählergruppen, sie entkernte die eigene Partei leise. Ob Mindestlohn, Abschaffung der Wehrpflicht, Gesellschafts-, Wirtschafts-, europäische Finanz- und Migrationspolitik, Frau Merkel schleifte reihenweise traditionell konservative Positionen.

Als sich die Konservativen dessen bewusst wurden, war die Union in weiten Teilen inhaltlich eine andere Partei. Später, aber mit zunehmender Dynamik, setzte der gleiche Prozess ein wie bei der SPD. Traditionell konservative Wählerinnen und Wähler fühlten sich politisch heimatlos. Die Bindungswirkung der Union nach rechts war abgerissen, und es begann der Aufschwung der AfD. Alexander Gauland, Bernd Lucke, Konrad Adam und viele AfD-Mitglieder sind Heimatvertriebene der Union, sie haben sich radikalisiert und mit der AfD eine neue politische Heimat errichtet.

Durch ihre inhaltliche Neuorientierung haben die Volksparteien sich selbst die Flügel gestutzt. Sie haben bewusst den Raum geschaffen, in dem neue, radikalere Parteien entstehen konnten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn Vertreter von CDU und SPD auf die Bedeutung der Volksparteien im Kampf gegen Extremismus verweisen. Sie selbst haben ihm durch gezielte Vernachlässigung ihrer Flügel den nötigen Raum gegeben. Es ist mehr als fraglich, ob es CDU und SPD gelingen kann, diese Entwicklung rückgängig zu machen.

Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die Grünen die Aufgaben einer Volkspartei übernehmen können. Dazu müssten sie breite Schichten ansprechen und längerfristig an sich binden. Das würde ein hohes Maß an Kompromissfähigkeit voraussetzen. Genau damit tut sich eine Partei aber schwer, die viele Positionen nicht nur inhaltlich, sondern auch moralisch begründet.

Kompromisse sind in solchen Fällen viel mehr als inhaltliche Abstriche an der eigenen Programmatik, sie werden schnell als Verrat an den eigenen Werten empfunden. Wenn sie im Kompromiss eine moralische Rückentwicklung sieht, ist die Integrationsfähigkeit einer Partei begrenzt.

Hinzu kommt, dass die Grünen nicht wirklich ein Angebot für die ganze Gesellschaft formulieren wollen. Grüne Politik ist eher Stadt- als Landpolitik. Ein verbilligter öffentlicher Personennahverkehr hilft auf dem Land wenig, wenn es nur eine Bushaltestelle im Ort gibt, die selten angefahren wird. Die Verteuerung des Autofahrens trifft die Menschen auf dem Land umso härter, während in der Stadt das Rad und der ÖPNV sehr gute Alternativen sind.

Auch der von den Grünen besonders forcierte Ausbau der erneuerbaren Energien geht einseitig zulasten des ländlichen Raums. Während man sich in den Städten über den sauberen Strom freut, hat man auf dem Land ein riesiges Windrad vor dem Haus. Eine Volkspartei würde hier nach einem Ausgleich suchen und sich bemühen, diese anderen Lebensrealitäten programmatisch abzubilden.

Bei den Grünen findet das kaum statt, weil sie die eigenen Ambitionen dem Kompromiss nicht opfern wollen. Genau das wäre aber erforderlich, wollten sie vom politischen Nischenanbieter mit besonderer Ökokompetenz zu einer breiter aufgestellten Volkspartei werden.

Was die Entwicklung der Parteienlandschaft angeht, ist ein anderes Szenario wahrscheinlicher, das ohne Volksparteien auskommt: Die Parteienlandschaft dürfte dauerhaft heterogener werden. An die Stelle der Volksparteien könnten mittlere Parteien mit einer klarer umrissenen Programmatik und spezifischen Angeboten treten. Sie mögen jeweils weniger gesellschaftliche Gruppen erreichen, diese dafür aber umso besser. Käme es so, müsste man das nicht bedauern, denn darin läge eine Chance.

Die Gesellschaft ist dynamischer, transparenter und unterschiedlicher geworden. Traditionelle politische Lager haben sich aufgelöst. Die Bürgerinnen und Bürger definieren ihre Erwartungen an die Politik klarer und fordern Lösungen nachhaltiger ein. Damit einher geht eine größere Verantwortung der einzelnen Parteien. Fand früher die politische Kompromissbildung großteils bereits innerhalb der Volksparteien statt, muss sie heute zunehmend zwischen mehreren Parteien erfolgen.

Das kann nur gelingen, wenn die Parteien der demokratischen Mitte gesprächs-, verhandlungs- und kompromissbereit sind. Sie dürfen sich bei aller Unterschiedlichkeit nicht in den Elfenbeinturm ihrer reinen Lehre zurückziehen, sondern müssen bereit sein, ihre Inhalte und Positionen zu verhandeln und in Koalitionen einzubringen. Wenn ihnen das gelingt, ist das Konzept einer breit aufgestellten Koalitionsregierung ein attraktiver Gegenentwurf zu den Volksparteien.

Die Wählerinnen und Wähler können die Schwerpunkte bei der Kompromissfindung nämlich selbst stärker mitbestimmen, indem sie klar profilierte Parteien unterstützen. Und sie können Kompromisse besser nachvollziehen. Die ausgleichenden Prozesse innerhalb der Volksparteien wurden – wenn überhaupt – nur von deren Mitgliedern gestaltet und blieben weitgehend intransparent.

Koalitionen funktionieren aber nicht, indem alle ihre politische Haltung preisgeben oder nur der kleinste gemeinsame Nenner gesucht wird. Die Grundlage einer Zusammenarbeit muss immer gegenseitiger Respekt sein. Koalitionspartner dürfen sich nicht einander angleichen, sie müssen sich mit ihren Kompetenzen ergänzen und so einen Mehrwert schaffen. Wo das nicht möglich ist, müssen sie in der Lage sein, durch Kompromisse einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen zu erzielen, damit die Gesellschaft zusammenhält. Demokratie ist ein Inklusionsauftrag.

In einigen Bundesländern funktioniert das in der Praxis sehr gut. Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz sind erfolgreiche Beispiele neuer Koalitionsmodelle: In Kiel regiert Jamaika mit CDU, Grünen und FDP, in Mainz eine Ampel mit SPD, Grünen und FDP. Natürlich empfinden die Grünen bestimmte Vorstellungen der FDP als Zumutung, genauso wie die FDP einige ihrer Koalitionspartner. Das ist aber kein Problem, solange man in der Lage ist, sich darauf zu konzentrieren, gut zu regieren. Und selbstverständlich ist „Leben und leben lassen“ auch für Koalitionen eine kluge Maxime.

Eine konstruktiv arbeitende Koalition kann nicht nur Stabilität schaffen; durch das transparente Zusammenführen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und die Ausweitung des politischen Themenspektrums kann sie unsere Demokratie beleben und bereichern. Die politische Integrationswirkung einer Koalitionsregierung ist größer als die einer Volkspartei.

Es gibt keinen Grund, ein Ende der Volksparteien zu beklagen. Die Parteienlandschaft passt sich gerade den Veränderungen unserer Gesellschaft an. Die Menschen nehmen sich die Freiheit, stärker selbst zu entscheiden. Unsere Demokratie ist lebendig.

Quelle:

fdpbt.de   –   31.05.21   –   12:00 Uhr

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