Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Johannes Vogel gab der „Welt“ (Donnerstag-Ausgabe) und „Welt Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Thorsten Jungholt:

Frage: Als die FDP 2009 in die Bundesregierung eingezogen war, rief Parteichef Guido Westerwelle auf dem ersten Dreikönigstreffen eine „geistig-politische Wende“ aus. Was ist in diesem Jahr Ihre Botschaft an die eigenen Anhänger, Herr Vogel?
Vogel: Wir erleben nach der Ära Merkel ein neues Parteiensystem. Die politischen Lager gehören der Vergangenheit an – und damit auch die Überhöhung von Koalitionen zu Projekten historischen Kalibers. Nötig ist dagegen eine sachpolitische Wende, um den Stillstand der letzten Jahre durch Modernisierung aus der Mitte heraus zu überwinden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Frage: Die ersten Wochen haben liberalen Parteigängern einiges zugemutet – zum Beispiel einen Nachtragshaushalt in Höhe von 60 Milliarden Euro, in dem nicht genutzte Kreditermächtigungen zur Bekämpfung der Corona-Krise in einen Klimafonds umgeleitet werden. Was ist das anderes als ein Taschenspielertrick zur Umgehung der Schuldenbremse?
Vogel: Die Schuldenbremse des Grundgesetzes tasten wir nicht an, das haben wir versprochen. Sie ist aber klug konstruiert und macht einen Unterschied zwischen normalen und außergewöhnlichen Jahren, in denen es richtig ist, über Verschuldung schwere Krisen abzufedern. Die Alternative zum Nachtragshaushalt wäre gewesen, entweder die Steuern zu erhöhen, Corona-Hilfen zu kürzen oder eben die Regeln der Schuldenbremse aufzuweichen. Das wollen wir nicht, da halten wir Wort.
Frage: Die Umwidmung von Corona-Mitteln in einen Transformationsfonds zur Finanzierung Ihrer Klimapolitik halten Sie für verfassungsrechtlich unbedenklich?
Vogel: Die Union hat angekündigt, dass sie dagegen klagen will. Das ist interessant, weil sie dann gegen sich selbst klagt – sie hat es 2020 ebenso gemacht. Im Unterschied zur Union haben wir dagegen die Verschuldung nicht ausgeweitet. Und ich halte es als ehrgeiziger Liberaler auch für erstrebenswert, dass wir sogar weniger Kredite nutzen, als im Haushalt vorgesehen sind. In der Sache ist die Umwidmung angemessen, weil Unternehmen in der Corona-Krise nur eingeschränkt in der Lage waren, nötige Investitionen in die dringend notwendige Dekarbonisierung zu tätigen und hierfür endlich entlastet werden müssen.
Frage: Geändert hat Ihre Partei die Haltung zu einer allgemeinen Impfpflicht, weg von einer strikten Ablehnung, hin zu einer individuellen Gewissensentscheidung der 92 Abgeordneten. Hätten Sie das in der Opposition auch so entschieden?
Vogel: Sogar der Ethikrat teilt sich auf in drei Gruppen. Die einen sind ganz gegen eine Impfpflicht, die anderen für eine partielle für besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen. Die dritte Gruppe ist für eine allgemeine Impfpflicht. Das zeigt doch schon, dass es sich offensichtlich um eine medizinethische Frage handelt, wie zum Beispiel auch die Sterbehilfe. Wir haben in Deutschland gute Erfahrungen damit gemacht, diese nicht nach Fraktionsgrenzen, sondern in Gruppenanträgen zu entscheiden. Hinzu kommt: Es ist auch ein Wesen von lernender Politik, eine Position der veränderten Lage anpassen zu können. Die Delta-Variante führte dazu, dass höhere Impfquoten als vorher angenommen als nötig erachtet wurden, damit die Pandemie endlich endemisch wird.
Frage: Omikron verändert die Lage erneut…
Vogel: Ja. Vielleicht wird die Frage einer Impfpflicht dadurch auch obsolet, weil die Herausforderung für das Gesundheitssystem sich verändert. Vielleicht aber bleibt zum Beispiel unsere Impflücke gerade bei den Älteren gefährlich. Hier lernen wir derzeit ja jeden Tag dazu. In der Bundestagsdebatte werden diese Themen besprochen werden.
Frage: Haben Sie die Bestrebungen an Ihrer Basis registriert, einen Mitgliederentscheid zur Impfpflicht-Ablehnung zu initiieren?
Vogel: Ich habe gehört, dass es einzelne Stimmen gibt, die das aufbringen, aber damit wohl sowohl in ihrem Landesverband als auch in ihrem Kreisverband eine absolute Minderheitenposition wahrnehmen.
Frage: Es passt aber zu dem ersten Gruppenantrag aus Reihen der Fraktion, der eine Impfpflicht ebenfalls ablehnt. Warum wird das Thema in Ihrer Partei emotionaler diskutiert als in anderen?
Vogel: Weil es um die Abwägung unterschiedlicher Freiheitseinschränkungen geht: dem medizinischen Eingriff einerseits und Eingriffen in individuelle Freiheiten durch Corona-Maßnahmen andererseits. Dass Liberale das emotional besonders umtreibt, finde ich, ehrlich gesagt, normal. Alles andere würde mich beunruhigen in einer Partei, die die Freiheit im Namen trägt. Wir pochen ja generell auf wirksame und verhältnismäßige Corona-Maßnahmen, die neue Regierung verzichtet etwa auf Ausgangssperren und pauschale Geschäftsschließungen. Aber auch an die aktuell notwendigen Instrumente sollten wir uns nicht dauerhaft gewöhnen, einen Lockdown des Horizonts darf es nicht geben. Die Debatte, ob der Freiheitsgewinn durch den wissenschaftlichen Fortschritt des Impfens jeweils Pflichten rechtfertigt, ist übrigens nicht neu für uns – wir haben sie auch 2017 geführt, ehe ein Bundesparteitag beschloss, dass die FDP für die Impfpflicht bei Masern und anderen empfohlenen Impfungen für Jüngere ist. Ich sehe auch nicht, dass die Partei insgesamt in Aufruhr wäre. Im Gegenteil: Wir verzeichnen weiterhin positive Eintrittszahlen.
Frage: Werden wir im Zuge des Vorschlags der EU-Kommission, Atom- und Gaskraft zu nachhaltigen Energien zu erklären, den ersten Streit der Ampel-Parteien erleben?
Vogel: Ich sehe den Konflikt nicht. Es ist klar, dass die dauerhafte Nutzung der Kernenergie nicht der deutschen Position entspricht – auch nicht meiner. Genauso klar ist aber, dass wir in Europa und weltweit damit eine Minderheitsmeinung vertreten. Gleichzeitig begrüßen wir die Entscheidung zur Gaskraft als Brückentechnologie. Die ist in der Sache richtig, denn ohne Gas kein früherer Kohleausstieg – und das ist auch Position der Ampel. Das steht wörtlich im Koalitionsvertrag. Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, moderne Gaskraftwerke zu bauen.
Frage: Ihr grüner Koalitionspartner lehnt nicht nur die Einstufung von Atomenergie ab, sondern nennt auch die Gas-Entscheidung der EU fragwürdig. Wie wird sich Deutschland also in Brüssel verhalten?
Vogel: Die Bundesregierung sollte die Vorlage der Kommission nicht ablehnen.
Frage: Fühlen Sie sich wohl, in Europa nahezu allein den Weg ohne Atomkraft zu gehen?
Vogel: Die Reihenfolge des Ausstiegs in Deutschland – Atom vor Kohle – ist sicherlich mit Blick auf das Klima suboptimal. Aber diese Frage ist nun mal entschieden, und ich kenne auch keinen wirtschaftlichen Akteur, der länger Kernkraftwerke betreiben will. Da das bisher mit Blick auf die Risiken immer nur mit Staatshaftung funktioniert, wäre ich auch als Marktwirtschaftler dagegen. Gleichzeitig habe ich Respekt vor anderen Positionen, weil ich die Bewältigung des Klimawandels für eine historische Aufgabe in einem extrem knappen Zeitfenster halte. Der IPCC sagt, zwei der drei großen Hebel – erneuerbare Energien, technische Negativemissionen und Kernenergie – müssen alle nutzen, damit es gelingt. Wir haben uns für die beiden ersten entschieden. Aber als guter Europäer maße ich mir nicht an, anderen zu diktieren, unserem Weg folgen zu müssen.
Frage: Fürchten Sie bei Gas als Brückentechnologie die Abhängigkeit von Russland?
Vogel: Die Realität ist so komplex, dass sie von uns permanente Ambiguitätstoleranz fordert. Wir müssen begreifen, nicht jedes Problem gleichzeitig lösen zu können, sondern priorisieren zu müssen. Vorrang hat für uns die Dekarbonisierung. Fossiles Gas ist besser als Kohle, aber nicht optimal, sowohl mit Blick auf Abhängigkeit von Lieferanten als auch mit Blick auf die CO2-Emissionen. Die Lösung ist, so schnell wie möglich die Erneuerbaren auszubauen und die Gaskraftwerke später klimaneutral mit synthetischem Gas und als Speicherreserve zu nutzen. So ist es nicht nur beim Gas. Es gibt auch aktuell keinen technischen Weg, die Dekarbonisierung zu bewältigen, ohne auch sonnenreichere Regionen außerhalb Europas zu nutzen. Wir werden also Desertec 2.0 in Nordafrika brauchen – und uns auch damit bei der Energieproduktion weiter abhängig von fragileren Weltregionen machen. Das zu ändern, hat dann danach Priorität.