Der designierte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai gab „Zeit Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Ferdinand Otto und Lisa Caspari:
Frage: Herr Djir-Sarai, wir wollten den neuen Generalsekretär der FDP kennenlernen. Angesichts der Weltlage sollten wir aber zunächst mit dem Außenpolitikexperten der Liberalen, mit Ihnen, sprechen. Was macht Deutschland, wenn Russland die Grenze der Ukraine überschreitet?
Djir-Sarai: Ich hoffe sehr, dass es nicht dazu kommt. Es geht hier nicht nur um die Ukraine, es steht viel mehr auf dem Spiel. Wir müssten uns dann grundlegend der Frage stellen, wie die neue Sicherheitsarchitektur in Europa aussehen muss.
Frage: Ist ein Stopp von Nord Stream 2 denkbar oder ein Ausschluss Russlands vom Zahlungssystem Swift?
Djir-Sarai: Alle Optionen müssen auf dem Tisch bleiben. Es ist gut, dass der Bundeskanzler das ebenfalls unterstrichen hat.
Frage: Russland sagt, es fühle sich vom Westen bedroht.
Djir-Sarai: Das sind Ausreden. Hat Russland Angst vor der Ukraine, vor Polen, Estland oder Schweden? Unwahrscheinlich. Was Putin wirklich fürchtet, ist die Reaktion der russischen Bevölkerung, wenn vor der eigenen Haustür demokratische, wirtschaftlich erfolgreiche Staaten entstehen. Dann könnte es nämlich dazu kommen, dass sich die Menschen im eigenen Land ein Beispiel an den Nachbarn nehmen, aufstehen und Demokratie und Bürgerrechte einfordern. Das ist aus Sicht der russischen Regierung die eigentliche Bedrohung für das System.
Frage: Und was heißt das für Europa?
Djir-Sarai: Wir waren lange naiv. Das gilt im Übrigen auch für die China-Politik. Im Westen hat lange die Vorstellung dominiert, dass Länder, die wirtschaftlich erfolgreich sind und die durch ihren Handel eng mit demokratischen Staaten verflochten sind, automatisch auch zu Demokratien werden. Diese Vorstellung wurde leider von der Realität widerlegt. Es ist höchste Zeit, dass wir uns besser mit unseren europäischen Partnern abstimmen und in außenpolitischen Fragen mit einer Stimme sprechen.
Frage: Sie sind mit elf Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen, in ein Land, das sich bis heute damit schwertut, als Einwanderungsgesellschaft bezeichnet zu werden. Wie haben Sie das Ankommen erlebt?
Djir-Sarai: Mein Deutschlandbild war von Beginn an durchgehend positiv. Ich bin 1987 aus Teheran nach Grevenbroich zu meinem Onkel gekommen, in eine Kleinstadt. Ich hatte das Glück, dass ich von Menschen umgeben war, die es gut mit mir meinten. Die Nachbarskinder, die immer fragten: Kommt Bijan mit zum Fußballspielen? Oder die Lehrer, die sich nach dem Unterricht mit mir hingesetzt haben, um die Hausaufgaben durchzugehen. Ich kam in die Schule, ohne ein Wort Deutsch zu können. Und obwohl ich im Iran gut war in Mathe, verstand ich die Textaufgaben nicht. Das war enorm frustrierend für mich.
Frage: Ihre Eltern hatten Sie damals wegen des Iran-Irak-Kriegs nach Deutschland geschickt. Hatten Sie Angst vor Abschiebung?
Djir-Sarai: Ja, diese Angst war immer da. Ich kann mich noch gut an den Brief vom Innenministerium in NRW erinnern: Der Krieg sei vorbei, ich müsse nun das Land verlassen. Meine Schulklasse hat zurückgeschrieben, dass ich bleiben solle. Die Antwort des damaligen Ministers habe ich heute noch: Er finde es toll, dass sich die Klasse so für ihren Mitschüler einsetze. Erst nach acht Jahren in Deutschland konnte ich dann den Antrag auf Staatsbürgerschaft stellen. 1996 war es so weit. Das war ein unglaublich bewegender Tag für mich. Der Besuch beim Amt war jedoch recht formell: Eine Beamtin hat mir mit neutralem Gesichtsausdruck die Unterlagen ausgehändigt. Das war eine Sache von 15 Minuten. Keine festliche Stimmung, wie man sie in den USA oder auch in Kanada sehen kann.
Frage: Viele von den Prozessen, die Sie persönlich erlebt haben, will die Ampel-Koalition reformieren: schneller zur Staatsbürgerschaft, Spurwechsel aus dem Asylrecht für die, die Arbeit haben, keine Abschiebung bei guter Integration. Die Union sagt, das sei ein „Pull-Faktor“, ein Anreiz für Migranten, nach Deutschland zu kommen.
Djir-Sarai: Diese Analyse teile ich ausdrücklich nicht. Es ist der alte Versuch zu sagen, Deutschland sei kein Zuwanderungsland. Das stimmt nicht. Deutschland ist ein Einwanderungsland und wir sollten stolz darauf sein. Die Menschen, die zu uns kommen und unsere Werte teilen, sind eine Bereicherung für die Gesellschaft. Deshalb begrüße ich sehr, dass die Koalition die Migrationspolitik neu ausrichtet und auf der einen Seite dafür sorgen möchte, dass Menschen unbürokratisch zu uns kommen und hier ihr Glück suchen können. Auf der anderen Seite ist es ebenso wichtig, dass jene, die ihren Platz in unserer Gesellschaft nicht finden wollen, weil sie beispielsweise unsere Werte nicht teilen oder straffällig werden, in ihre Heimatländer zurückgeführt werden.
Frage: Sie haben eine Aufsteigerbiografie, wie man sie bei der FDP gern erzählt. Nur lahmt das liberale Aufstiegsversprechen insgesamt. Die Zahl derer, die in Deutschland den Sprung in die Mittel- oder gar Oberschicht schaffen, wird kleiner. Woran liegt das?
Djir-Sarai: Was Aufstiegshemmnisse für Menschen mit Migrationshintergrund bedeuten, habe ich auch erfahren müssen. Deshalb sind Vorbilder so wichtig für den sozialen Aufstieg. Für meine Generation war Cem Özdemir der Held, als er auf einmal Bundestagsabgeordneter wurde. Das war ein starkes Signal: Wir sind nicht automatisch Verlierer und Außenseiter, sondern können es in diesem Land bis ganz nach oben schaffen. Dieses Signal müssen wir auch weiterhin in die Gesellschaft senden, weshalb Diversität und Repräsentation so wichtig sind.
Frage: Bei der Analyse von Ungleichheit und sozialer Mobilität sind sich die Politiker verschiedener Parteien ja weitestgehend einig. Die klassische staatszentrierte Antwort auf diese Frage ist: umverteilen, Steuern erhöhen, Quoten einführen. Aber wie wollen Sie solche Probleme mit liberaler Politik lösen?
Djir-Sarai: Eine Gesellschaft, in der sozialer Aufstieg nicht möglich ist, ist keine liberale, keine freiheitliche Gesellschaft. Wir als FDP haben immer dafür gekämpft, dass es keine Rolle spielt, wo jemand herkommt oder wie gebildet oder wohlhabend das Elternhaus ist. Der Fokus muss darauf liegen, was jemand aus seinem Leben machen möchte, wo er oder sie hinwill. Der Schlüssel dafür ist Chancengleichheit von Kindesbeinen an.
Frage: Die FDP verspricht Aufstieg durch Bildung – zementieren wir durch das dreigliedrige Schulsystem nicht die Verhältnisse?
Djir-Sarai: Die Gliederung des Schulsystems ist nicht das Problem. Das System muss aber durchlässig sein. Es muss möglich sein, sich nach oben zu arbeiten. Wir würden uns als Gesellschaft etwas kaputt machen, wenn wir die Menschen einmal in eine Schulform einordnen und sie dann dazu drängen, dort zu bleiben.
Frage: Dennoch gab es in Ihrer Familie offenbar diese Sorge: Als Sie nach Deutschland kamen, meldete Ihr Onkel Sie direkt auf dem Gymnasium an. Obwohl sie kaum Deutsch konnten.
Djir-Sarai: In der Tat hat sich mein Vater sehr gewünscht, dass ich hier in Deutschland aufs Gymnasium gehe. Und in Grevenbroich hat der Schuldirektor gesagt: Nein, er gehört auf die Hauptschule, weil er kein Deutsch kann. Aber meine Familie blieb hartnäckig. Sie haben zahlreiche beglaubigte Übersetzungen vorgelegt, um zu beweisen, dass ich im Iran ein sehr begabter Schüler war. Aber auch später gab es Lehrer, die mir empfohlen haben, kein Abitur zu machen, sondern die Schule nach der mittleren Reife zu verlassen. Ihre Argumentation war, es sei besser, wenn ich vor meiner Rückkehr nach Iran etwas Technisches erlerne. Gott sei Dank habe ich die Ratschläge ignoriert und trotzdem Abi gemacht.
Frage: Bildung ist das eine. Aber gesellschaftlicher Aufstieg misst sich auch in finanzieller Sicherheit. Im Dezember lag die Inflation bei 5,3 Prozent. Ist das ein Problem?
Djir-Sarai: Die Inflationsentwicklung erfüllt viele Menschen mit Sorge. Man bekämpft sie am effektivsten durch eine solide Finanzpolitik. Hierzulande leiden bereits jetzt viele Menschen unter den gestiegenen Preisen, besonders jene mit kleineren Einkommen. Daher sollten Steuern und Abgaben bei den Energiekosten auf den Prüfstand kommen, um die Energiepreise langfristig stabil ausrichten zu können. Außerdem ist es richtig, dass die Regierung jetzt kurzfristige Maßnahmen wie zum Beispiel eine Entlastung etwa für Wohngeldempfänger zugesagt hat.
Frage: Das ist doch sozialdemokratische Politik.
Djir-Sarai: Für uns Liberale ist Solidarität doch kein Fremdwort. Sozialpolitik ist uns wichtig. Wir lassen die Menschen nicht allein. Und natürlich kann liberale Politik auch staatliche Unterstützung beinhalten. Nur wird sie da niemals stehen bleiben. Deswegen ist für uns die im Koalitionsvertrag angekündigte Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten bei Mini- und Midijobs ein besonders wichtiges Anliegen. Uns geht es darum, den Menschen dabei zu helfen, sich aus einer Lage, in der sie staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen müssen, befreien zu können. Denn nur so erreichen wir doch langfristig den sozialen Aufstieg in unserem Land.