FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai gab „Zeit Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Ferdinand Otto:
ZEIT ONLINE: Herr Djir-Sarai, woran denken Sie beim Wort Krieg?
Djir-Sarai: Ich denke sofort an meine Kindheit.
ZEIT ONLINE: Sie wurden 1976 in Teheran geboren. 1980 brach der Erste Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak los. Wie haben Sie als Kind gemerkt, dass Krieg ist?
Djir-Sarai: Der Krieg lag schon lange in der Luft. Der Iran hatte soeben eine Revolution hinter sich, die Gesellschaft war radikalisiert, auf den Straßen waren unglaublich viele Uniformierte unterwegs. Meine allererste Kriegserinnerung ist einer der ersten Luftangriffe auf Teheran. Das muss 1980 oder 1981 gewesen sein.
ZEIT ONLINE: Wie haben Sie den erlebt?
Djir-Sarai: Ich war bei meiner Oma zu Besuch. Die Bomben fielen in der Nacht. Es war ein unglaublicher Lärm, alles hat gedröhnt.
ZEIT ONLINE: Hatten Sie Angst?
Djir-Sarai: Ich konnte als kleines Kind aus der Situation keine direkte Bedrohung für mich ableiten. Das kam erst später. Ich habe nur gesehen, wie ängstlich meine Großeltern plötzlich waren. Als ich neun oder zehn war, gab es dann eine Phase, in der Teheran wieder sehr stark bombardiert wurde. Das hat mich verstört.
ZEIT ONLINE: Was macht diese Erfahrung mit einem Kind?
Djir-Sarai: Man verdrängt den Krieg, obwohl man im Krieg lebt. Man steht morgens auf, putzt sich die Zähne, geht zur Schule, kommt nach Hause. Ein ganz normales Leben. Zumindest dann, wenn man nicht direkt an der Front lebt. Mit der Zeit stumpft man immer weiter ab. Wir Kinder saßen in der Schule und der Unterricht ging einfach weiter, während draußen in der Stadt die Bomben dröhnten. Einmal war ich mit meinen Eltern Eis essen, als der Luftalarm losging. Wir sind einfach weitergelaufen. Auf den Straßen ging bei Luftangriffen auch der Verkehr wie gewohnt weiter. Bei klarem Himmel konnte man sogar die Bomber sehen.
ZEIT ONLINE: Und nachts?
Djir-Sarai: Nachts wirken Bomben viel bedrohlicher, obwohl sie ja genauso tödlich sind wie am Tag. Eine Zeit lang durften wir Kinder nicht in unsere Betten, sondern haben an den tragenden Säulen des Hauses geschlafen. Damals hieß es, das sei sicherer. Später sind wir nachts auch oft in den Keller umgezogen. Da wartet man dann, macht Witze, vertreibt sich die Zeit. Ich war ja noch zu jung, um Motorrad zu fahren, trotzdem hatte mir mein Vater bereits einen Helm gekauft. Mit dem musste ich dann da unten sitzen – um geschützt zu sein, falls mir Geröll auf den Kopf gefallen wäre.
ZEIT ONLINE: Haben Sie verstanden, wer da kämpft und warum?
Djir-Sarai: Ja, ich wusste früh, um was es geht. Das war ständig Thema in der Schule. Wir Kinder bekamen oft Briefe von Soldaten, die uns eingeladen haben, mit an die Front zu kommen.
ZEIT ONLINE: Die Kinder sollten beim Krieg zugucken?
Djir-Sarai: Nein, wir sollten mitkämpfen. Unser Schulleiter war ein Hardliner, ein Revolutionswächter. Der kam mit Uniform und Waffe in den Unterricht und wollte uns überreden, zu Märtyrern zu werden. Viele Kinder sind damals freiwillig in den Krieg gezogen, andere wurden vor der Schule oder dem Kino geschnappt und an die Front geschickt. Das war dann auch einer der Gründe, warum ich 1987 zu meinem Onkel nach Deutschland geschickt wurde. Da war ich gerade elf Jahre alt. Meine Eltern wussten, dass es für mich im Iran gefährlich wird. Mein damaliges Alter war das bevorzugte Alter für Kindersoldaten.
ZEIT ONLINE: Haben Sie sich damals Gedanken übers Sterben gemacht?
Djir-Sarai: Ja, das habe ich. Auch als Kind schon. Morgens auf dem Weg zur Schule habe ich mir damals oft die Frage gestellt, ob ich den Abend noch erleben werde. Ob ich meine Eltern wiedersehen werde. Ich hatte aber natürlich auch Pläne und Träume für mein Leben, wie alle jungen Leute.
ZEIT ONLINE: Was waren Ihre Pläne und Träume?
Djir-Sarai: Ein Leben in Frieden. Das mag jetzt phrasenhaft klingen. Für mich bedeutete es damals die Welt.
ZEIT ONLINE: Sind Sie Pazifist?
Djir-Sarai: Nein.
ZEIT ONLINE: Warum nicht?
Djir-Sarai: Ich bin Realist. Autokraten und Diktatoren stoppt man nicht mit Pazifismus. Dafür braucht es eine glaubwürdige Abschreckung. Und das sage ich, obwohl ich selbst erlebt habe, was für ein immens hoher Preis mit Krieg verbunden ist. Ein Krieg verursacht wirtschaftliche Schäden. Die lassen sich aber reparieren. Was der Krieg aber an seelischen Narben bei denjenigen hinterlässt, die ihn erleben, das kann man nicht reparieren. Das wird einen nie loslassen. Das begleitet einen, ein Leben lang.
ZEIT ONLINE: Wie hat der Krieg Sie persönlich verfolgt?
Djir-Sarai: Auf einer Silvesterparty, etwa zur Abizeit, sagte ein Freund zu mir, ich solle doch nicht so viel trinken, wenn es mir doch offensichtlich nicht bekommt. Nur war mir nicht übel vom Alkohol, sondern vom Geräusch der Böller und der Raketen. Durch diese Geräusche kamen meine Erinnerungen an den Krieg mit voller Wucht zurück. Noch schlimmer war mein erster Jahreswechsel hier in Deutschland. Damals war ich ja noch ein kleiner Junge. Niemand hatte mich auf diesen Lärm vorbereitet. Bis heute kann ich daran nichts Schönes finden.
ZEIT ONLINE: Wie stehen Sie zu der Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine? Ein Argument dagegen ist ja, sie würden den Krieg verlängern. Und da dürfte etwas dran sein. Ohne westliche Unterstützung hätte die Ukraine vielleicht schon kapituliert und es wäre Frieden.
Djir-Sarai: Wenn Putin diesen Krieg schnell gewonnen hätte, wäre kein Land in Europa mehr sicher. Der Preis, den wir dann zu zahlen hätten, wäre unermesslich. Putin würde weitermachen, davon bin ich überzeugt. Noch mehr Menschen würden sterben. Das ist einer der Gründe, warum die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren darf und wir sie bei der Verteidigung entschlossen unterstützen müssen.
ZEIT ONLINE: Sollte die Ukraine also schwere Waffen bekommen, auch auf die Gefahr hin, dass dann länger gekämpft wird? Der Krieg zwischen Iran und Irak hat acht Jahre gedauert…
Djir-Sarai: Ich halte es für absolut notwendig, der Ukraine schwere Waffen zu liefern. Der Kampf der Ukrainer gegen den Angriffskrieg Russlands ist legitim. Das war beim Ersten Golfkrieg anders. Da haben zwei unfreie Regime brutal gegeneinander und um die Vorherrschaft in der Region gekämpft.
ZEIT ONLINE: In Deutschland stirbt gerade die Generation aus, die sich noch aktiv an solche Kriegsgräuel erinnern kann. Geht damit auch gesamtgesellschaftlich ein Stück Bewusstsein für die Schrecken des Krieges verloren?
Djir-Sarai: Das Gefühl habe ich, ja. Viele sind nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Motivation in die Politik gegangen, dass sich so etwas nie wiederholen darf. Heute haben die meisten aus Mangel an persönlichen Erlebnissen keine Vorstellung davon, was Krieg wirklich bedeutet. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich finde, das ist ein großes Glück. Aber deshalb muss man umso mehr aufpassen, dass man nicht leichtfertig eine gefährliche Kriegsrhetorik annimmt.
ZEIT ONLINE: Führen wir die Debatten über den Krieg in der Ukraine wirklich zu leichtfertig?
Djir-Sarai: An der einen oder anderen Stelle habe ich diesen Eindruck. Es ist essenziell, wieder mehr in die Bundeswehr zu investieren, die Truppe auszurüsten und natürlich die Ukraine zu unterstützen. Trotzdem ist ein Kanzler, der in solch einer ernsten Situation mit Bedacht agiert und jeden Schritt abwägt, sehr wichtig. Deutschland darf auf keinen Fall Kriegspartei werden.
ZEIT ONLINE: Was folgt aus diesem Krieg, welche Lehren müssen wir ziehen?
Djir-Sarai: Wir müssen die richtigen Konsequenzen für unsere zukünftige Sicherheitsarchitektur ziehen: Dazu gehört eine moderne und schlagkräftige Bundeswehr, die ihren Landes- und Bündnisverpflichtungen nachkommen kann. Außerdem müssen wir als Gesellschaft endlich verstehen, wie wenig selbstverständlich die Dinge sind, die wir für selbstverständlich gehalten haben: Frieden, Freiheit, Demokratie. Mir ist aufgefallen, dass ich eine tiefe Erfahrung teile mit Menschen, die die DDR aktiv miterlebt haben – und das, obwohl ich selbst nie dort gelebt habe. Wenn Wolf Biermann singt „Lass dich nicht brechen“, verstehe ich genau, was er meint. Vielen im Westen ist die Wertschätzung für Frieden und Freiheit zuletzt ein Stück verloren gegangen. Wir müssen uns wieder bewusst machen, wie privilegiert wir sind, dass wir in Deutschland in Frieden und Freiheit leben.