Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Johannes Vogel schrieb für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Dienstagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Die Grundsicherung in Deutschland muss einfacher, unbürokratischer, würdewahrender und vor allem aufstiegs- und chancenorientierter werden. Die Freien Demokraten haben eine solche Modernisierung als „Liberales Bürgergeld“ seit vielen Jahren in ihrem Programm. Es ist gut, dass die Koalition auf Bundesebene den gemeinsamen Willen besitzt, in dieser wichtigen Frage voranzukommen. Das ist eine große Herausforderung, aber mit dem Bürgergeld ist es möglich. Drei Beispiele:
Erstens: Menschen, die etwa durch einen Schicksalsschlag auf die Unterstützung der Solidargemeinschaft angewiesen sind, sollten nicht als Erstes über Details ihres Mietvertrages diskutieren müssen – sondern sich darauf konzentrieren können, so schnell wie möglich finanziell wieder auf eigene Beine zu kommen. Zudem sollten wir Eigenverantwortung, zum Beispiel für die Altersvorsorge, immer belohnen und nicht bestrafen. Für beides sind die Neuregelungen beim Schonvermögen das richtige Instrument.
Zweitens ist es absurd, dass Beschäftigte in den Jobcentern heute zwei Drittel ihrer Zeit damit verbringen, teils Kleinstbeträge für wechselnde Bescheide und Rückforderungen, etwa bei sich änderndem Zuverdienst, auszurechnen. 2018 wurden so zum Beispiel 60 Millionen Euro ausgegeben, um 18 Millionen Euro einzutreiben – so verzettelt sich ein Staat in sich selbst. Hier mit Bagatellregelungen zu entbürokratisieren heißt: Mehr Zeit, in der stattdessen Menschen geholfen werden kann, wieder eine Erwerbstätigkeit zu finden.
Drittens ist einer der Hauptgründe für Langzeitarbeitslosigkeit mangelnde Qualifikation. Daher sollten wir Phasen der Bedürftigkeit nutzen können, um etwa eine Berufsausbildung nachzuholen. Die bisherigen Regeln ließen dies aber absurderweise selbst in Zeiten des Fachkräftemangels oft nicht zu – und zwangen Berater stattdessen, Menschen in eine Helfertätigkeit zu vermitteln, aus der in der nächsten Konjunkturdelle nur wieder Arbeitslosigkeit folgt. Bei all diesen Modernisierungen stimmt die Richtung der jetzt vorgelegten Eckpunkte.
Was das neue Bürgergeld allerdings auch bringen muss, ist mehr Leistungsgerechtigkeit und Fairness. Das berührt normative Grundfragen, denen sich ein Sozialstaat immer stellen muss, weil er die Akzeptanz der gesamten Gesellschaft braucht – derjenigen, die ihn gerade in Anspruch nehmen müssen, ebenso wie derjenigen, die ihn gerade finanzieren.
Hier entzündet sich nun eine Debatte, denn der Arbeitsminister wünscht sich höhere Regelsätze und weicht damit von den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag ab. Als Begründung führt er die – in der Tat – drückende Inflation an. Die jährliche Regelsatzanpassung basiert jedoch ohnehin auf der jährlichen Inflationsrate. Deshalb werden die Sätze zum 1. Januar 2023 kräftig steigen – und für die Zeit bis dahin gab es eine Sonderzahlung. Die Kosten der Heizung werden zusätzlich in tatsächlicher Höhe komplett übernommen.
Beides ist richtig, denn wer mit dem Existenzminimum leben muss, ist von steigenden Lebenshaltungskosten besonders schnell überfordert. Warum die Berechnungsmethode der Regelsätze aber mit der Begründung Inflation über den automatischen Ausgleich genau dieser hinaus verändert werden soll, dafür bleiben Hubertus Heil und die SPD bisher jede Antwort schuldig. Ein Gebot der Fairness wäre es vielmehr, einen genau gegenteiligen Automatismus bei den Menschen mit kleinen Einkommen endlich anzugehen. Denn als Reaktion auf die Inflation werden vielerorts die Löhne steigen – und damit auch die Steuersätze, wodurch die Menschen durch das Phänomen der kalten Progression am Ende wieder weniger Geld als vorher in der Tasche haben. Diese Form der Steuererhöhung durch Unterlassung sollten wir daher endlich abschaffen.
Eine Frage der Fairness ist es schließlich auch, dass wir wie vereinbart an dem vom Verfassungsgericht bestätigten Umfang an möglichen Sanktionen festhalten. Denn neun von zehn Betroffenen kommen mit Sanktionen schon heute niemals in Berührung. Es ist eine Frage des Respekts, dass es auch künftig einen Unterschied machen muss, wenn eine kleine Minderheit sich nicht an die Regeln hält. Das Bürgergeld wird den Grundsatz des Förderns und Forderns also nicht abschaffen, im Gegenteil.
Der wichtigste Reformaspekt des neuen Bürgergeldes ist indes etwas anderes: Denn wenn wir wollen, dass junge Menschen selbstbewusste Piloten des eigenen Lebens werden, dann dürfen wir ihnen die Startbahn nicht länger blockieren. Es ist schreiend unfair, wenn die Schülerin Annika bei ihrem Minijob von ihren 450 Euro nur 170 Euro behalten darf, weil ihre Eltern auf Grundsicherung angewiesen sind, und Ayşe die vollen 450 Euro behalten darf, da die Eltern finanziell unabhängig sind. Manche halten das für eine kleine Frage. Ich bin überzeugt, es ist eine große Frage, wenn junge Menschen bei der prägenden Erfahrung des ersten selbst verdienten Geldes spüren, dass ihre Anstrengung weniger wert ist. Das ist das Gegenteil von Chancengerechtigkeit und Aufstiegsperspektive. Gut, dass damit im Bürgergeld Schluss sein wird.
Auch bei den Hinzuverdienstregeln für Erwachsene müssen wir endlich vorankommen. Menschen sollen durch ihre Arbeit Schritt für Schritt eine Leiter in die finanzielle Selbständigkeit hochklettern können. Aber genau dabei haut ihnen der Sozialstaat heute die Beine weg, weil sie von jedem mehr verdienten Euro 80 Cent abgeben müssen – in manchen Konstellationen mit Kindern haben sie sogar trotz zusätzlichen Verdiensts nichts mehr in der Tasche. Die Reform der Zuverdienstregeln für Jugendliche und für Erwachsene ist daher für uns der zentrale Baustein beim neuen Bürgergeld – für mehr Leistungsgerechtigkeit und Fairness in unserem Sozialstaat.