Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesminister der Finanzen Christian Lindner gab „Blick“ das folgende Doppel-Interview mit Thierry Burkart (FDP Schweiz). Die Fragen stellte Christian Dorer:
Frage: Herr Lindner, Herr Burkart, was haben Sie gemeinsam?
Lindner: Die Liebe zur Freiheit!
Burkart: Wir kommen beide aus Familienverhältnissen, in denen wir früh Verantwortung übernehmen mussten. Vielleicht ist das der Grund für diese Liebe zur Freiheit.
Frage: Warum sind Sie einst der FDP beigetreten?
Burkart: Ich hatte schon als Jugendlicher den Drang, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Lindner: Auch ich wollte schon als junger Mensch auf eigenen Beinen stehen, mit 18 die eigene Wohnung haben. Es war dieses Lebensgefühl, Pilot des eigenen Lebens zu sein und nicht Passagier. Das bietet nur die FDP. Verantwortung zu haben, ist nicht nur ein Privileg – Freiheit ist anstrengend!
Frage: Die freiheitlichen Demokratien sind weltweit bedroht wie nie. Warum gerade jetzt?
Burkart: Menschen neigen dazu, sich bei Unsicherheit vermeintliche Stabilität in autoritären Systemen zu suchen. Der Liberalismus ist zudem weltweit sehr wenig verbreitet und er ist noch verhältnismäßig jung.
Lindner: Der Machtanspruch Chinas und der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zeigen uns neu auf, dass Freiheit unser zentraler Wert ist. Ein Leben in Würde ist ohne Freiheit undenkbar. Deshalb sollten wir mit diesem zentralen Wert wieder sorgfältiger umgehen. Die Schweiz, Deutschland, die Europäische Union, Nordamerika und andere teilen dieselben Werte. Bei äußeren Bedrohungen der Freiheit müssen diese demokratischen Rechtsstaaten enger zusammenarbeiten.
Frage: Der liberale Geist steht auch für die Globalisierung, die wegen zu grosser Abhängigkeiten gescheitert ist. Welche Glaubenssätze mussten Sie revidieren?
Lindner: Ich teile ihre Analyse nicht. Die Globalisierung hat weltweit Hunderte Millionen Menschen aus bitterster Armut in eine bessere Lebenssituation geführt. Exportorientierte Nationen haben davon sehr profitiert. Unsere Probleme in Deutschland hängen eher mit Bilateralisierung als mit Globalisierung zusammen: Wir haben unsere Sicherheit bilateral ausgelagert an die USA, unsere Energieversorgung bilateral mit Russland organisiert, uns bilateral enorm abhängig gemacht vom chinesischen Markt. Meine Konsequenz daraus ist: Wir müssen globaler denken, uns international mehr diversifizieren.
Frage: Es war die liberale Politik, welche die Auslagerung von zentralen Industrien nach Asien ermöglicht hat.
Burkart: Gerade die Schweiz als Kleinstaat ist auf die globale Zusammenarbeit angewiesen. Gemäß einer Studie der Bertelsmannstiftung hat die Schweiz seit dem Fall der Berliner Mauer von allen Ländern am meisten von der Globalisierung profitiert. Diese hat uns Wohlstand gebracht und ist nicht per se etwas Negatives. Schlecht ist, wenn man sich von einzelnen Staaten abhängig macht. Das ist die Lehre, die wir daraus ziehen müssen.
Frage: Sie sprechen beide viel von Eigenverantwortung. Bei Covid wäre die Wirtschaft ohne den Staat kollabiert. Braucht es also doch den Staat, wenn es hart auf hart kommt?
Lindner: Wir brauchen einen Staat, der uns bei den großen Fragen nicht im Stich lässt und uns im Alltag bitte schön in Ruhe lässt. Niemand kann seine eigene Sicherheit durch ein privates Militär garantieren. Im Zuge der Pandemie jedoch wurde in Deutschland der Staat für alles und jedes verantwortlich gemacht. Auch dort, wo sein Eingreifen die Kreativität der Menschen beschnitten hat. Selbst der deutsche Staat ist in seinen Möglichkeiten finanziell limitiert, auch wenn manche das nicht wahrhaben wollen.
Burkart: Wer Liberalismus mit Anarchie verwechselt, der hat den Liberalismus nicht verstanden. Wir wollen keinen ausufernden Staat, der alles bestimmt. Aber in gewissen Bereichen braucht es ihn und muss er effektiv sein. Die Pandemie zeigt aber auch, dass das Leben ohne Einschränkungen sehr viel besser ist.
Wer ist staatsgläubiger, die Schweizer oder die Deutschen?
Burkart: Die Deutschen. Die Geschichte der Schweiz ist untrennbar mit dem Konzept der Freiheit verbunden. Deshalb hat die FDP die moderne Schweiz geprägt und damit bei uns eine viel bedeutendere Rolle gespielt als in Deutschland.
Lindner: Zweifelsohne ist das so. Ein Deutscher hätte den Gessler-Hut gegrüßt, um es mit dem Tell zu sagen. Deshalb bin ich gerne in der Schweiz.
Frage: Sie haben doch beide dasselbe Problem mit Ihren Parteien: Sie haben die grüne Welle total verpasst!
Lindner: Nein.
Burkart: Wir tun sehr viel in diesem Bereich, aber mit anderem Ansatz. Die Grünen wollen Rückschritt und unser Leben einschränken. Wir hingegen fördern den technologischen Fortschritt. John F. Kennedy hat einst gesagt: «Die Probleme sind von Menschen gemacht, also können sie auch von Menschen gelöst werden.»
Lindner: Im Ziel stimmen wir mit den Grünen überein: Wir wollen die Transformation zu einem nachhaltigeren Land, das künftigen Generationen Chancen hinterlässt und nicht verbrauchte Ressourcen. Aber der Weg ist eben völlig unterschiedlich. Wir wollen diese Transformation durch Spitzentechnologie, Erfindergeist und Ideenwettbewerb erreichen.
Frage: Reden wir über den Krieg: Tut der Westen genug, um die Ukraine zu unterstützen?
Burkart: Ich kann nur für die Schweiz sprechen. Russland zerstört die Friedensordnung in Europa. Auch unsere Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenwürde sind betroffen, also muss die Schweiz im Rahmen ihrer Neutralität Flagge zeigen und einen Beitrag leisten. Heißt auch: sich an den Sanktionen beteiligen. Wenn wir das einzige Land in Europa wären, das sich nicht an den Sanktionen beteiligt, würden wir zum Gehilfen des Aggressors und damit uns selber schaden.
Frage: Ist das nicht mal wieder typisch: Der Krieg betrifft den ganzen Westen, und der Schweizer Vertreter redet nur über die Schweiz!
Lindner: Am Ukraine-Krieg entzündet sich auch die Frage einer Werte-Entscheidung der Schweiz. Ich bin dankbar und voller Anerkennung, dass mein Kollege unterstrichen hat, dass Neutralität eben nicht Werterelativismus bedeutet. In der Ukraine werden auch die Werte verteidigt, die der Schweiz heilig sein müssen.
Frage: Tut die Schweiz, tut der Westen genug?
Lindner: Die Schweiz übernimmt die Sanktionen. Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren. Wir sind solidarisch mit den Menschen, die zu uns fliehen, und wir unterstützen die Verteidigung der Ukraine auch durch die Lieferung tödlicher Kriegswaffen und schweren Geräts. Wir nehmen wirtschaftliche Nachteile durch die Sanktionen in Kauf. Und dennoch überlege ich mir jeden Tag: Kann Deutschland noch mehr tun?
Frage: Müsste nicht vor allem die Schweiz mehr tun, Herr Burkart?
Burkart: Die Schweiz darf neutralitätsrechtlich keine Waffen liefern. Wenn jedoch nicht neutrale Länder Waffen und Munition an die Ukraine liefern wollen und die Schweiz verhindert das, dann müssen wir über die Bücher.
Frage: Das ist heuchlerisch: Wir liefern nicht, aber wir ermöglichen.
Burkart: Wir ermöglichen nicht, aber verhindern es nicht. Das ist ein entscheidender Unterschied und entspricht dem Konzept der Neutralität.
Frage: Warum liefert der Westen nicht einfach all die Waffen, die die Ukrainer wollen?
Lindner: Wir tun alles, was in unserer Macht steht, heißt: was unsere eigene Fähigkeit zur Verteidigung nicht einschränkt. Darüber hinaus könnten wir die bestehenden Sanktionen verschärfen. Immer mit dem Ziel, dass wir Russland stärker treffen als uns selbst. Denn auch unsere wirtschaftliche Stärke ist Bestandteil unserer strategischen Überlegenheit gegenüber Russland.
Frage: Sie haben bereits vor Monaten gesagt: «Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen und sie wird diesen Krieg gewinnen.» Was macht Sie so sicher?
Lindner: Der Freiheits- und Selbstbehauptungswille der Ukrainerinnen und Ukrainer.
Burkart: Ich bin vorsichtig mit Prognosen, weil man den Kriegsverlauf nicht vorhersehen kann. Man weiß ebenso wenig, wie viel Russland noch in diesen Krieg investieren wird. Aber wir haben alle ein Interesse daran, dass es so ausgeht, wie Christian Lindner sagt.
Frage: Treffen die Sanktionen die Richtigen?Lindner: Wirtschaftssanktionen sind nicht geeignet, um auf den aktuellen Kriegsverlauf Einfluss zu nehmen. Die komplette wirtschaftliche und politische Isolierung Russlands hat das Ziel, dass es mittelfristig eine Lösung gibt und Putin den Preis für seine Aggression zahlt.
Burkart: Sanktionen können den Krieg nicht sofort beenden. Langfristig wirken sie aber. So wissen wir, dass die Erneuerung der russischen Bodentruppen massiv verlangsamt wurde wegen der Sanktionen von 2014. Das hat einen wesentlichen Einfluss auf den Kriegsverlauf.
Frage: Wie kommt Europa aus der russischen Energie-Abhängigkeit wieder heraus?
Lindner: Indem wir unsere eigenen Potenziale ausbauen, also Wind-, Solar- und Wasserkraft stärken. Ich nenne die Erneuerbaren deshalb „Freiheitsenergien“.
Frage: Das geht nicht von heute auf morgen. Knapp wird es aber bereits in diesem Winter.
Lindner: Seit dem Regierungswechsel sind wir in Deutschland geradezu mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs. Wenn Sie sich erinnern, wie lange es gedauert hat, den Flughafen Berlin in Betrieb zu nehmen und wie schnell es jetzt gelingt, LNG-Terminals zu installieren, wo Frachtschiffe aus aller Welt Gas abliefern können! Dafür haben wir als FDP Jahrzehnte geworben, um die Abhängigkeit von russischen Quellen zu reduzieren. Jetzt ist es möglich.
Frage: Moment, Ihre Partei war auch in der Regierung, als sich Deutschland noch weiter in die Abhängigkeit von Russland begab.
Lindner: Das ist nicht zutreffend. Die Gasabhängigkeit von Russland war bereits zu Zeiten der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder sehr hoch. In den vier Jahren von 2009 bis 2012, in denen wir regiert haben, ging die Quote des Imports von russischem Gas sogar ein Stück zurück. Jetzt ändern wir das alles. Auch die Nutzung von europäischen Gas- und Ölvorkommen wurde in Deutschland leider zu lange zurückgewiesen. Zudem sollten unsere sicheren deutschen Kernkraftwerke noch eine Zeit länger laufen.
Burkart: Die Schweiz hat den Importbedarf an Strom massiv erhöht, weil wir zwei Ziele miteinander verknüpft haben: weg vom CO₂ und weg von der Kernenergie, die bei uns nach wie vor ein Drittel der Strommenge liefert. Wir müssen daher Rahmenbedingungen schaffen, damit unsere bestehenden Kernkraftwerke so lange, wie sie sicher sind, laufen können. Denn CO₂-Neutralität und Atomausstieg kann nicht gleichzeitig erfolgen. Wir brauchen eine Anpassung der Energiestrategie.
Frage: Sind Sie auch für den Neubau von AKW?
Lindner: Mit dieser Frage wird sich die Generation unserer Enkel vielleicht wieder beschäftigen. Aktuell ist die gesellschaftspolitische Diskussion abgeschlossen. Als Marktwirtschaftler sehe ich, dass es keinen privaten Versicherer gäbe, der neue Anlagen versichern würde.
Burkart: Die FDP hat an einer Delegiertenversammlung noch vor dem Krieg festgelegt, dass wir Kernenergie der neuen Generation nicht ausschließen. Technologieverbote sind Denkverbote und verhindern gute Lösungen.
Frage: Wie groß ist die Gefahr, dass die Menschen im Winter frieren und Fabriken ihre Produktion herunterfahren müssen?
Lindner: Wir tun alles, damit es nicht zu einer solchen Krise kommt. Wir füllen die Gasspeicher und prüfen alle Reserven der Energieerzeugung.
Burkart: Das darf nicht passieren. Der Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft wäre gigantisch. Beim Gas ist die Schweiz weniger von Russland abhängig als Deutschland. Trotzdem brauchen wir möglichst schnell Überlastkraftwerke, Restwasser- und Gasreserven. Der Ausbau der Erneuerbaren geht leider langsamer vorwärts als in Deutschland: Hier stehen wir uns selber im Weg mit ellenlangen Bewilligungsverfahren beim Ausbau der Wasserkraft und mit politischen Hürden bei Fotovoltaikanlagen in den Alpen.
Frage: Jetzt zeigen Sie auf die Linke. Doch es war die FDP, die in manchen Kantonen zusammen mit der SVP fortschrittliche Energiegesetze verhindert hat.
Burkart: Was heißt fortschrittlich? Wir sind für den Ausbau erneuerbarer Energien, doch zurzeit gibt es zu hohe bürokratische Hürden. Die Bremser sind tatsächlich andernorts, und die zeigen jetzt mit dem Finger auf uns. Das bringt uns nicht weiter.
Frage: Herr Lindner, Sie sagten letztes Jahr im Blick: «Wir müssen alles unternehmen, damit sich die Schweiz auf diesem Kontinent nicht isoliert. Da können wir die Rolle eines Brückenbauers übernehmen.» Jetzt sind Sie in der Regierung: Wo bauen Sie Brücken?
Lindner: Ich bin in sehr engem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus der Schweiz, insbesondere mit dem Außen- und dem Finanzminister. Ich habe den Eindruck, dass wir auf gutem Weg sind.
Burkart: Das Verhältnis ist nicht so schlecht, wie es dargestellt wird. Der Austausch zwischen den Ländern funktioniert hervorragend, besonders auch wirtschaftlich. Es braucht jetzt aber politische Gesprächsbereitschaft auf beiden Seiten, ohne rote Linien im Voraus.
Frage: Beweist dieser Krieg nicht, dass die Schweiz viel enger an Europa heranrücken muss?
Burkart: Wir müssen zu allen unseren westlichen Partnern ein enges und gutes Verhältnis pflegen, nicht nur zur EU. Unter anderen gehören die USA und Großbritannien zu unseren wichtigsten Handelspartnern.
Frage: Wie arbeiten Sie beide eigentlich zusammen?
Lindner: Wir stehen in regelmäßigem, informellem Kontakt. Der ist zwischen der FDP Schweiz und der FDP Deutschland so eng wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr.
Burkart: Christian und ich haben die Handynummer voneinander und schicken uns auch mal ein SMS. Wir beobachten die deutsche FDP und können so auch Ideen gewinnen.