FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesminister für Digitales und Verkehr Dr. Volker Wissing gab dem Focus-Magazin das folgende Interview. Die Fragen stellten Felix Heck und Thomas Tuma:
Frage: Herr Wissing, wann sind Sie das letzte Mal Zug gefahren?
Wissing: Das ist nicht lange her. Ich bin sehr regelmäßig mit der Bahn unterwegs.
Frage: Und wann das letzte Mal mit heftiger Verspätung ans Ziel gekommen?
Wissing: Wie vielen anderen Bahnreisenden passiert auch mir das leider immer noch häufig. Viel zu häufig.
Frage: Bei der DB soll es einen Vip-Service geben. Angeblich werden im Netz Züge bevorzugt, in denen ein Politstar sitzt wie Sie. Haben Sie das schon gemerkt?
Wissing: Es gab mal eine solche Regelung, die aber inzwischen zurecht abgeschafft wurde.
Frage: 2022 war das wohl chaotischste Jahr der gesamten Bahn-Geschichte: heillose Verspätungen, Zugausfälle, ungezählte Pannen und Baustellen. Das Drama hat auch Sie durch Ihr erstes Jahr als Verkehrsminister begleitet.
Wissing: Für alle Verkehrsunternehmen war die Zeit der Pandemie eine große Herausforderung, egal ob auf dem Wasser, der Straße oder der Schiene. Bei der Bahn kommt hinzu, dass sie mehr Fahrgäste und mehr Güter befördert als je zuvor. Gleichzeitig haben meine Vorgänger aber nicht für die notwendigen Kapazitäten im Netz gesorgt. Fehlende Investitionen in die Infrastruktur rächen sich sofort. Und sie lassen sich nur schwer korrigieren.
Frage: Was wollen Sie 2023 verändern?
Wissing: Wir denken da vor allem an die bestehende Infrastruktur. Im Kernnetz hat die Bahn hochbelastete Korridore, die ich als Hauptschlagadern verstehe. Meine Vorgänger haben diese Korridore immer nur punktuell saniert. Wenn irgendwo am Gleisbett etwas defekt war, hat man dort eben eine Baustelle eingerichtet. Und wenn kurz darauf einige Kilometer weiter eine Weiche kaputt ging, begann das Ganze wieder von vorne. Dadurch haben sich diese Hauptschlagadern in infarktgefährdete Dauerbaustellen verwandelt.
Frage: Deswegen legen Sie – um im Bild zu bleiben – nun erstmal Bypässe.
Wissing: Genau. Wir ertüchtigen und elektrifizieren jetzt Nebenstrecken, über die wir den Verkehr später umleiten können. Das wird uns noch das ganze nächste Jahr beschäftigen. Mitte des Jahres 2024 beginnen wir dann mit der ersten Vollsanierung eines Korridors. Für fünf Monate sperren wir dann die komplette Riedbahn zwischen Mannheim und Frankfurt. Da wird dann alles auf einmal saniert und auf den neuesten technologischen Stand gebracht. Insgesamt wollen wir bis 2030 so die acht wichtigsten Trassen runderneuern.
Frage: Wenn die Riedbahn saniert wird, bringt das einem Vielfahrer in Norddeutschland eher wenig, oder?
Wissing: Auch Leute in Garmisch-Partenkirchen, Flensburg oder Brandenburg werden schon von der ersten Sanierung profitieren. Die Riedbahn ist die Aorta des gesamten deutschen Schienennetzes, wenn Sie so wollen. Eine Sanierung bringt also nahezu im gesamten Streckennetz eine deutliche Verbesserung. Und auch hier gilt ein medizinischer Vergleich: Selbst der kleine Zeh ist besser durchblutet, wenn die Hauptschlagader wieder frei ist.
Frage: Wir wollen die Medizin-Vergleiche nicht überstrapazieren, aber am Ende bleibt all das eine Operation am offenen Herzen, mit erheblichen Auswirkungen für die Fahrgäste. Was ist zum Beispiel, wenn eine der Nebenstrecken auch noch Probleme bekommt?
Wissing: Natürlich gibt es keine Operation, bei der man jede Komplikation ausschließen kann. Das gilt auch für Baustellen. Aber man kann sie so sorgfältig vorbereiten, dass weitere Probleme weniger Auswirkungen auf den Verkehr haben. Und eines ist auch klar: Ganz ohne Einschränkungen für die Fahrgäste geht es nicht. Das muss gut kommuniziert sein.
Frage: Für die Kommunikation sind bei der Bahn vor allem Vorstand und Aufsichtsrat zuständig. Beide Gremien haben Sie in Ihrem ersten Jahr als Verkehrsminister umgekrempelt. Ist die Führungs-Mannschaft der Bahn jetzt gut genug aufgestellt?
Wissing: Vor allem ist es nun ein echtes Team. Es ist schon viel wert, wenn man Leute im Vorstand hat, die gemeinsam an einer Sache arbeiten. Und das mit hoher Kompetenz und großer Leidenschaft.
Frage: Es gibt Gerüchte, dass die Cargo-Chefin Sigrid Nikutta und der Vorstandsvorsitzende Richard Lutz sich vor allem leidenschaftlich bekriegen.
Wissing: Das kann ich nicht bestätigen.
Frage: Ausgerechnet DB Cargo gilt zugleich als echtes Sorgenkind des Staatskonzerns. Die Zahlen sind chronisch rot, Güterzüge erreichen teils mit mehreren Tagen Verspätung ihr Ziel.
Wissing: Das hängt sehr stark mit den Problemen im Netz der Deutschen Bahn zusammen. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch DB Cargo vor enormen Herausforderungen steht. Ob Getreidetransporte aus der Ukraine oder die vorrangige Behandlung von Kohlezügen – all das läuft dort zusammen. Die Zahlen sollte man also immer auch im Kontext dieser schweren Zeiten sehen.
Frage: Der Aufsichtsrat der DB hat angekündigt, den Verkauf von Schenker prüfen zu lassen. Wie stehen Sie dazu?
Wissing: Ich halte einen Verkauf von Schenker für richtig. Die Deutsche Bahn muss sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren und dieses auf Vordermann bringen. Die Bahn hat in Deutschland genug zu tun bei der Sanierung, Modernisierung aber auch bei der Digitalisierung. Für ein international tätiges Unternehmen wie Schenker ist es besser, aus dem Konzern der Bahn herausgelöst zu werden.
Frage: Die FDP hat sich immer stark gemacht für eine Trennung von Netz und Betrieb bei der Bahn. Wird’s dazu in einer Ampel-Regierung kommen?
Wissing: Wir wollen die Tochtergesellschaften DB Netz, DB Betrieb und DB Service fusionieren und in eine selbstständige, gemeinwohlorientierte Infrastruktursparte überführen. Das soll zum 1. Januar 2024 umgesetzt werden. Sie sehen also: 2023 wird ein wichtiges Jahr für uns.
Frage: Nach dem Sabotageakt an Gleisanlagen der Bahn im Herbst haben Sie eine neue Stabsstelle Infrastruktursicherheit eingerichtet. Was ist das genau – außer ein neuer Arbeitskreis?
Wissing: Schon der Kriegsausbruch in der Ukraine hat unsere Aufmerksamkeit auf die Infrastruktursicherheit gelenkt. Wir haben sehr früh Warnungen bekommen, dass von der Art der russischen Kriegsführung auch kritische Infrastruktur hierzulande betroffen sein könnte.
Frage: Das heißt, die Sabotage hat Sie nicht überrascht?
Wissing: Nein. Aber natürlich gibt es entsprechende Vorkehrungen, um auf solche Taten reagieren zu können. In diesem konkreten Fall haben alle Maßnahmen sehr schnell gegriffen. Wir haben bei uns im Haus Sicherheitsexperten für die Bahn, die Straße, Tunnel, die IT … Mit der Stabstelle wollen wir diese Fachleute regelmäßig an einem Tisch zusammenbringen. Diese Art der Vernetzung kann uns nur nützen.
Frage: Was bedeuten die explodierten Energiekosten eigentlich für die Bahn und ihre Ticketpreise?
Wissing: Die Bahn ist Deutschlands größter Stromkunde. Das hat natürlich Auswirkungen. Aber wir haben als Bundesregierung einen Schutzschirm gespannt, der greift auch in diesem Fall.
Frage: Wann genau kommt das 49-Euro-Ticket?
Wissing: Es gibt für dessen Einführung bislang keinen festen Termin. Ich wünsche mir, dass es so schnell wie möglich kommt, denn die Bürgerinnen und Bürger warten darauf.
Frage: Viele sind zumindest enttäuscht, dass es nichts mit dem anvisierten Jahresanfang als Starttermin wird.
Wissing: Das kann ich verstehen. Aber das Deutschlandticket, das wir für einen Preis von 49 Euro einführen wollen, ist eben auch etwas ganz anderes als das 9-Euro-Ticket im vergangenen Sommer.
Frage: Inwiefern?
Wissing: Wir wollen mit diesem Ticket einen dauerhaften Beitrag zur klimaneutralen Mobilität leisten. Deswegen muss es andere Dinge können als das 9-Euro-Ticket. Es soll zum Beispiel im Abo erhältlich sein. Ein deutschlandweites Abo unterscheidet sich erheblich von den bisherigen Einnahme-Modellen der Verkehrsunternehmen. Die Branche muss sich völlig neu aufstellen, dieser Prozess braucht natürlich eine gewisse Zeit.
Frage: Gibt es trotz dieser Herausforderungen schon ein Datum, auf das sich Bahnfahrer einstellen können?
Wissing: Wir machen das so schnell wie möglich. Aber nochmal: Das ist die größte Tarifreform, die es im öffentlichen Personennahverkehr der Bundesrepublik jemals gegeben hat. Wenn wir so etwas umsetzen, dann muss das alles rechtlich und technisch sauber sein. Sonst beschweren sich die Leute hinterher zu Recht über einen verstolperten Start.
Frage: Deutschlandticket, Baustellen-Planung, Sicherheits-Infrastruktur – viele Ihrer Projekte finden in den Mühen der Ebenen statt, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Ist das nicht frustrierend?
Wissing: Für mich ist viel wichtiger, dass die Qualität meiner Arbeit stimmt. Ich kann keine schnellen Wunder vollbringen. Aber ich kann dafür sorgen, dass unsere Infrastruktur nach Jahren der Vernachlässigung wieder auf Vordermann gebracht wird und die Züge wieder pünktlich fahren. Das setzt einen langen Atem voraus und den habe ich.
Frage: Gibt’s eigentlich auch etwas, das für die Fahrgäste der Bahn nächstes Jahr besser wird?
Wissing: Es wird neue Strecken, neue Züge und eine dichtere Taktung geben. Die Bahn wird modernere und schnellere Züge einsetzen. Durch die neuen Züge gibt es mit dem Fahrplanwechsel fast 20.000 Sitzplätze mehr im Fernverkehr. Die Verbindungen ins europäische Ausland werden ausgebaut, gleiches gilt auch für das Angebot bei den Nachtzügen. Und auch die Verfügbarkeit des Mobilfunknetzes wird besser.
Frage: Telekom und Vodafone schaffen es doch angeblich erst bis 2026, alle Funklöcher zu schließen.
Wissing: An den Bahnstrecken können die für die Mobilfunkunternehmen wichtigen 900-MHz-Frequenzen aktuell leider nicht uneingeschränkt genutzt werden. Sonst käme es zu Störungen beim Bahnfunk (GSM-R). Deshalb müssen die Bahnunternehmen – also nicht nur die Deutsche Bahn, sondern alle, die auf der Schiene unterwegs sind – ihre Funkgeräte in den etwa 14.000 Fahrzeugen störfest nachrüsten. Wie wichtig der Bahnfunk für den Betrieb ist, haben wir ja bei den Sabotageakten im Oktober gesehen. Wir haben zur Nachrüstung von Seiten meines Ministeriums ein eigenes Förderprogramm aufgelegt, das etwa 80 Millionen Euro umfasst und bis zu 100 % der Umbaukosten finanziert. Die Umrüstung ist fast geschafft. Um sie zu beschleunigen, sind wir im intensiven Austausch mit allen Beteiligten.
Frage: Haben Sie eigentlich weltweit Vorbilder, was den Bahnverkehr angeht?
Wissing: Bahnnetze sind etwas sehr Individuelles. Man muss sich in jedem Land also die besten Beispiele herauspicken und auch die Unterschiede berücksichtigen.
Frage: Geht’s ein bisschen konkreter?
Wissing: Nehmen Sie den Shinkansen in Japan, den superpünktlichen Hochgeschwindigkeitszug dort …
Frage: … der zugleich der Star war im Hollywood-Film „Bullet Train“, auch weil er jede Station auf die Sekunde genau erreicht und verlässt.
Wissing: Da fragen mich viele: Warum kann die Bahn nicht so pünktlich sein?
Frage: Und?
Wissing: Er hat eine eigene Trasse. Da stört nichts. Wenn Sie sich aber mal die Pünktlichkeit im japanischen Regionalverkehr anschauen, sieht es schon anders aus. Da sind wir in Deutschland gut aufgestellt. Was ich damit sagen will: Jedes Bahnnetz hat Stärken und Schwächen. Wenn in anderen Ländern etwas besser läuft, schaue ich mir das an und versuche, es für unser Netz zu adaptieren. Aber wir sollten auch unsere eigenen Stärken erkennen. Die Bahn ist eines der sichersten und auch eines der wichtigsten Verkehrsmittel, die wir haben. Dass es auch wieder das verlässlichste wird, daran arbeite ich.