Der FDP-Bundesvorsitzende und Bundesminister der Finanzen Christian Lindner MdB gab der „Stuttgarter Zeitung“ (Donnerstag-Ausgabe) und „Stuttgarter-Zeitung.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Tobias Peter und Igor Steinle:
Frage: Herr Lindner, im Nahen Osten droht nach dem Angriff des Irans auf Israel ein Flächenbrand. Muss sich an der deutschen Nahost-Politik etwas ändern?
Lindner: Wir stehen an der Seite Israels – der einzigen Demokratie in der Region. Der Iran muss den Terror einstellen. Deutschland sollte seine Iran-Politik kritisch hinterfragen: Schöpfen wir alles aus, um das Regime zu schwächen? Ich sage zugleich: Auch Israel ist gut beraten, in seinen Reaktionen Maß zu halten.
Frage: Sie werben für eine Wirtschaftswende. Der Kanzler ist eher zurückhaltend und hält das Wachstumschancengesetz für ausreichend. Hat er den Ernst der Lage nicht erkannt?
Lindner: Als liberaler Finanzminister, der gut mit der Lage der Wirtschaft vertraut ist, ist es vielleicht stärker meine Aufgabe, auf die Situation hinzuweisen. Seit 2014 haben wir dramatisch an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Das erschwert es den Menschen, im Leben voranzukommen. Es erschwert uns aber auch, den Sozialstaat zu finanzieren und ausreichend viel Geld für die Verteidigung von Land und Bündnis auszugeben. Deshalb brauchen wir jetzt eine Wende.
Frage: Sie würden gern den Soli, den momentan noch die oberen zehn Prozent der Einkommensteuerzahler bezahlen müssen, komplett abschaffen. Das kostet 13 Milliarden Euro im Jahr. Ist das Folklore eines FDP-Vorsitzenden im Wahlkampf – oder sieht der Finanzminister eine reale Chance für das Projekt?
Lindner: Der Soli wird in erster Linie von Handwerksbetrieben, Familienunternehmen und der Industrie gezahlt. Er ist eine Sondersteuer für die deutsche Wirtschaft. Das können wir uns nicht mehr leisten. Auch rechtlich ist es fraglich, dass der Solidaritätszuschlag – bei dem es ja um die Bewältigung der Lasten der Einheit ging – dauerhaft weitererhoben wird. Bevor das Verfassungsgericht den Soli kippt, ohne dass wir für diese Situation einen guten Plan haben, sollten wir ihn lieber planvoll und Schritt für Schritt auslaufen lassen.
Frage: Die Haushaltsverhandlungen in diesem Jahr werden sehr schwierig. Wo soll das Geld für Entlastungen herkommen?
Lindner: Das lässt sich nur über ein haushaltspolitisches Gesamtkonzept lösen. Ein entscheidender Punkt ist: Wir müssen aufhören, immer mehr Geld zu zahlen, wenn Menschen nicht arbeiten. Das Ziel muss sein, dass jeder, der arbeiten kann, auch arbeitet.
Frage: Das klingt nach Kritik an der eigenen Politik. Hätten Sie die Bürgergeldreform im Nachhinein lieber nicht gemacht?
Lindner: Nein, die Reform hat gute Elemente. Beispielsweise habe ich es immer als skandalös empfunden, dass eine Auszubildende aus einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft von ihrer Vergütung nur wenig behalten durfte, während der Auszubildende aus der begüterten Familie für die gleiche Tätigkeit die volle Vergütung bekam. Das wurde zu Recht korrigiert. Nun geht es darum, aus gemachten Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen.
Frage: Welche?
Lindner: Dass der Berechnungsmodus für den Regelsatz Probleme aufwirft, ist bekannt. Die Bürgergelderhöhung ist in diesem Jahr zu hoch ausgefallen, dafür wird es im nächsten eine Nullrunde geben. Entscheidend ist aber: Wir müssen mehr Druck aufbauen, wenn sich Menschen weigern, zumutbare Arbeit aufzunehmen.
Frage: Die Ampel hat bei den Sanktionen beim Bürgergeld bereits nachgesteuert, bis hin zu zwei Monaten Komplettsanktionen bei Totalverweigerern. Hier fordern Sie noch mehr?
Lindner: Es geht mir nicht um die Bewertung von Einzelmaßnahmen. Klar ist aber: Wir brauchen ohne Wenn und Aber weitere Verschärfungen bei den Sanktionen. Der Staat muss alles tun, damit zumutbare Arbeit auch tatsächlich aufgenommen wird. Da ist noch Luft nach oben. Wenn wir Menschen verpflichten, Ein-Euro-Jobs zu übernehmen, wird es unattraktiver, sich aufs Bürgergeld zu verlassen. Und: Wir müssen die Erfahrungen mit dem Job-Turbo für die Flüchtlinge aus der Ukraine genau auswerten. Das, was da erfolgreich ist, müssen wir auf alle ausweiten.
Frage: Die Reform zur Kindergrundsicherung steht auf der Kippe. FDP und SPD ist der Entwurf von Familienministerin Lisa Paus von den Grünen – Stichwort: 5000 zusätzliche Stellen – zu bürokratisch. Kommt die Reform, ja oder nein?
Lindner: Wir hatten immer zwei Bedingungen. Erstens: Die Kindergrundsicherung soll den Familien das Leben leichter machen, indem der Staat schlanker und digitaler wird. Das ist beim Entwurf von Lisa Paus offensichtlich noch nicht der Fall.
Frage: Und was ist die zweite Bedingung?
Lindner: Durch die Kindergrundsicherung darf kein zusätzlicher Anreiz entstehen, nicht zu arbeiten. Eine Studie von Wirtschaftsforschungsinstituten – wohlgemerkt eine Untersuchung, die Frau Paus selbst in Auftrag gegeben hat – zeigt: Die Kindergrundsicherung könnte dazu führen, dass 70 000 Menschen, insbesondere Alleinerziehende, nicht mehr arbeiten, weil das für sie nicht mehr attraktiv ist. Kurz gesagt: Im schlimmsten Fall stellen wir 5000 Staatsdiener ein, die über zwei Milliarden Euro an zusätzlichen Staatsgeldern verteilen, damit danach eine ganze Stadt von der Größe Aschaffenburgs nicht mehr arbeiten geht und keine Steuern und Sozialabgaben entrichtet. Hier muss die Kollegin Änderungen erarbeiten.
Frage: Das Rentenpaket II soll das Rentenniveau bis 2039 bei 48 Prozent absichern. Dafür werden die Beiträge kräftig steigen müssen. Sie haben die Reform mit Arbeitsminister Hubertus Heil verhandelt. Teilen Sie die Kritik aus Ihrer eigenen Partei, dass nicht genug für Generationengerechtigkeit getan wird?
Lindner: Ich verstehe die Kritik. Aber sie wäre nur schlagend, wenn es beim Beschlossenen bleiben sollte. Auf das Rentenpaket II wird – spätestens in der nächsten Wahlperiode – das Rentenpaket III folgen. Wir werden die Lebensarbeitszeit verlängern müssen, durch Individualisierung und Anreize. Menschen mit 64 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen zu lassen, ist verrückt angesichts der demografischen Entwicklung. Auch darüber, wie die Rente genau berechnet wird, müssen wir noch einmal reden. Für die zweite Hälfte der 30er Jahre ist ein Rentenversicherungsbeitrag von über 22 Prozent prognostiziert. Das darf nicht real werden.
Frage: Also Sie verteilen die Wohltaten und die nächste Bundesregierung darf dann die Einschnitte machen.
Lindner: Ich bin bereit, das jetzt und sofort zu machen. Spätestens in der nächsten Legislaturperiode lassen sich weitere Reformen bei der Rente nicht vermeiden.
Frage: Es steht ein Parteitag an. In Berlin wurde zuletzt das Gerücht herumgereicht, dass Sie mit dem Leitantrag bewusst unerfüllbare Forderungen aufstellen werden, um dann einen Koalitionsbruch zu rechtfertigen. Wird der Leitantrag das neue Lambsdorff-Papier?
Lindner: Der historische Vergleich hinkt. 1982 ging es darum, dass die SPD den von Helmut Schmidt vorangetriebenen Nato-Doppelbeschluss nicht mittragen wollte. Für den Haushalt 1983 konnte keine Übereinkunft hergestellt werden, weil die SPD Steuererhöhungen wollte. Ich bin überzeugt, dass wir 2024 einen zukunftsweisenden Haushalt erreichen können, der die nächste Generation nicht weiter belastet, und dass wir auch der Wirtschaft neue Impulse geben können.
Frage: Liegt der Unterschied nicht insbesondere darin, dass die FDP 1982 eine andere Machtoption hatte, die ihr jetzt fehlt?
Lindner: Man müsste bei einer Bundestagswahl prüfen, ob Ihre These stimmt. Jedenfalls haben wir den Vorsatz, für das Land gute Politik zu machen. So rosig, wie Sie es darstellen, war die Lage für die FDP im Jahr 1982 nicht: Der Schritt zur Bonner Wende war innerhalb der Partei so umstritten, dass unklar war, ob die FDP überhaupt in den Bundestag zurückkehren würde.
Frage: FDP-Vorsitzende müssen also mutig sein?
Lindner: Die FDP hat 1982 gezeigt, dass sie für ihre Überzeugungen eine Regierung verlässt und ins Unbekannte springt. Die FDP hat 2011 bewiesen, dass sie für ihre Überzeugungen auch in einer Regierung unpopuläre Entscheidungen vorantreibt, um unsere Wirtschafts- und Währungsunion in Europa zusammenzuhalten. Die FDP lässt sich von ihren Überzeugungen und staatspolitischer Verantwortung leiten.
Frage: Halten Sie daran fest, bei der nächsten Bundestagswahl über zehn Prozent erreichen zu wollen?
Lindner: Ja. Die FDP wird bei der nächsten Bundestagswahl ein zweistelliges Ergebnis erzielen. Das ist mir als Spitzenkandidat bereits zwei Mal gelungen.
Frage: Sie sind länger im Amt als jeder andere Parteivorsitzende im Bundestag. Wie lange wollen Sie den Job noch machen? Oder, anders gefragt, haben Sie „Lust auf Überstunden“, wie Sie sich von den Deutschen erhoffen?
Lindner: Ich bin 45 Jahre alt und hege keine Ausstiegsträume. Ich habe das Gefühl, ich fange gerade erst an.