STARK-WATZINGER-Interview: Schulen und Hochschulen müssen offen bleiben

FDP-Präsidiumsmitglied und Bundesministerin für Bildung und Forschung Bettina Stark-Watzinger gab „Zeit Online“ (Donnerstag) das folgende Interview. Die Fragen stellte Hannah Bethke:

Bettina Stark-Watzinger
Bettina Stark-Watzinger am 22.11.17 in Berlin im Deutschen Bundestag. / Fotograf: Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

Frage: Frau Stark-Watzinger, wie steht es nach zweieinhalb Jahren Corona mit der Bildung in diesem Land?

Stark-Watzinger: Nicht gut. Der IQB-Bildungstrend hat gezeigt, dass Corona ein Beschleuniger problematischer Entwicklungen war, aber nicht die alleinige Ursache für schlechtere Leistungen. Um die 20 Prozent der Grundschüler erreichen nicht mehr die Mindeststandards in der Mathematik, im Lesen und Zuhören. In der Orthographie sind es sogar 30 Prozent. Das ist ein deutlicher Zuwachs gegenüber 2016, teilweise um fast zehn Prozentpunkte. Das erschwert den individuellen Lebensweg vieler Schülerinnen und Schüler.

Frage: Und was macht Ihnen da besonders große Sorgen?

Stark-Watzinger: Die Bildungsschere in Deutschland öffnet sich. Das hat die Pandemie ganz deutlich gezeigt: Die Schülerinnen und Schüler, die zu Hause Unterstützung bekommen, können mit so einer Situation leichter umgehen als jene, die darüber nicht verfügen. Da ist der Staat gefragt, für mehr Bildungschancen zu sorgen. Der Bildungserfolg darf nicht von der sozialen Herkunft abhängen.

Frage: Die FDP hat das Thema Bildung schon im Wahlkampf groß geschrieben. Derzeit bedeutet Bildung aber vor allem eines: schlechte Nachrichten. Lehrermangel, Lerndefizite, chronische Unterfinanzierung, marode Schulgebäude – wo bleibt das positive Bildungsversprechen der FDP?

Stark-Watzinger: Wir wollen das Aufstiegsversprechen erneuern, mehr Chancen schaffen. Mit der Bafög-Reform haben wir bereits einen großen Baustein dafür geliefert. Das war uns auch deshalb so wichtig, weil junge Menschen in der Corona-Pandemie stark gelitten haben und Studierende lange nicht im Fokus der Politik standen. Mit dem „Startchancen-Programm“ wollen wir diejenigen Schülerinnen und Schüler besonders unterstützen, die unsere Unterstützung am meisten brauchen.

Frage: Das Programm „Startchancen“ soll 4.000 Schulen unterstützen, etwa durch mehr Sozialarbeiter und eine bessere Infrastruktur. Ab wann können die Schulen damit rechnen?

Stark-Watzinger: Wir erarbeiten gerade gemeinsam mit den Ländern die inhaltlichen Eckpunkte, die Ende September in den Haushaltsausschuss gehen. Von grundgesetzlicher Seite sind uns leider enge Grenzen gesetzt, was wir hier als Bund tun können. Die Eckpunkte werden die Basis sein, um in die Detailplanung zu gehen.

Frage: Gegenwärtig sind Ihnen ja nicht nur durch den Bildungsföderalismus Grenzen gesetzt. Die Liberalen haben alles andere als einen guten Lauf. Die Umfragewerte der FDP sind stark gesunken, während die Grünen mittlerweile an der Spitze stehen. Sind die beiden linken Koalitionspartner für die FDP zu mächtig?

Stark-Watzinger: Wir haben als Freie Demokraten ein klares, eigenes Profil und machen das auch sehr deutlich. Wir wollen etwa keine neuen Schulden oder Steuererhöhungen. Trotzdem arbeiten wir mit den Koalitionspartnern konstruktiv zusammen, und so erlebe ich auch den Dialog mit den Koalitionsfraktionen. Natürlich gibt es Streitpunkte, aber wir haben uns mit dem Koalitionsvertrag auf klare Projekte verständigt, die wir gemeinsam umsetzen.

Frage: Unverändert, trotz der schwelenden Konflikte in der Ampel-Koalition? Über die Entlastungsmaßnahmen in der Energiekrise herrscht ja derzeit zum Beispiel keine Einigkeit.

Stark-Watzinger: Ja, unverändert.

Frage: Die Schulen finden seit dem Ausbruch der Pandemie nicht mehr aus dem Krisenmodus heraus. Welche Lehren ziehen Sie daraus?

Stark-Watzinger: Wir müssen Kinder und Jugendliche jetzt nachhaltig unterstützen und fördern. Während der Pandemie war nicht nur die Bildung eingeschränkt, es gingen auch soziale Kontakte verloren, die psychische und körperliche Gesundheit wurde stark beeinträchtigt. Das hätte so nicht passieren dürfen.

Frage: Sie meinen, die Schulen hätten nicht geschlossen werden dürfen?

Stark-Watzinger: Genau. Und daraus müssen wir die Konsequenzen ziehen. Die Schulen müssen offen bleiben, auch in der Energiekrise und auch, wenn eine neue Corona-Welle kommt.

Frage: Können Sie das garantieren?

Stark-Watzinger: Natürlich kann ich das nicht für jede Schule und an jedem Ort garantieren, weil beispielsweise auch einmal Unterricht ausfallen kann, wenn viele Lehrer gleichzeitig krank sind. Aber wenn das der Fall ist, sollte es nur punktuell und vorübergehend sein. Flächendeckende Schulschließungen darf es nicht mehr geben. Länder und Schulen müssen sich entsprechend auf den Herbst vorbereiten, indem sie etwa besser mit den Eltern kommunizieren, digitalen Unterricht gut vorbereiten und die Infrastruktur verbessern. Dazu gehört auch die Ausstattung der Klassenräume mit mehr Luftfiltern und CO₂-Ampeln.

Frage: Die Luftfilter sind nun gerade kein Beispiel für eine gelungene Vorbereitung. Gerade erst beklagte Hamburgs Schulsenator Ties Rabe, das Bundesförderprogramm für mobile Luftfilter sei ein Reinfall, weil Klassenräume mit normalen Fenstern darin nicht berücksichtigt seien. Warum ist es so schwer, für eine angemessene technische Ausstattung der Schulen zu sorgen?

Stark-Watzinger: Weil wir drei Ebenen haben: die kommunalen Schulträger, die Länder und den Bund. Das Zusammenspiel ist nicht immer optimal. Der Bund hat in diesem Fall 200 Millionen Euro für mobile Luftfilter bereitgestellt, die von den Ländern nur zum Teil abgerufen wurden. Die Gründe dafür sind vielschichtig. So gab es etwa auch Landesprogramme.

Frage: Das klingt so, als seien Sie machtlos.

Stark-Watzinger: Nein, aber unsere Möglichkeiten im Bildungsbereich sind durch das Grundgesetz begrenzt. Als Bund wollen wir uns mehr als bisher engagieren und unterstützen, um ein Mehr an Bildung zu erreichen.

Frage: Lehrerverbände und Gewerkschaften kritisieren, das Corona-Aufholprogramm in Höhe von zwei Milliarden Euro verfehle seine Wirkung, weil die Angebote nicht bei den Schülern ankämen, die sie am meisten bräuchten.

Stark-Watzinger: Das Corona-Aufholprogramm wurde in sehr kurzer Zeit aufgelegt. Deshalb konzentrieren wir uns auch nicht auf eine Verlängerung, sondern das „Startchancen-Programm“. Wir müssen die Ziele solcher Programme künftig klar definieren und uns daran dann auch messen lassen.

Frage: Viele Menschen sorgen sich gerade vor explodierenden Energiepreisen. Auch die Klassenräume müssen bei kalten Temperaturen beheizt werden. Sie haben sich dafür ausgesprochen, dass Schulen zur Kritischen Infrastruktur zählen, im Fall der Energieversorgung also priorisiert werden. Warum ist das nicht längst der Fall?

Stark-Watzinger: Ich habe schon früh darauf hingewiesen, damit es möglichst nicht zu Unterrichtseinschränkungen oder gar Unterrichtsausfall kommt. Wir haben jetzt erreicht, dass Schulen von den zusätzlichen Energiesparmaßnahmen weitestgehend ausgenommen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat mit gutem Grund das Recht auf Bildung festgestellt. Kinder haben eine Schulpflicht, aber der Staat hat auch die Pflicht, Bildung anzubieten.

Frage: Sind nicht auch Hochschulen besonders schützenswert?

Stark-Watzinger: Absolut. Junge Menschen brauchen Hochschulen im Präsenzbetrieb. Sie lernen nicht nur und eignen sich Wissen an, sondern es geht auch darum, miteinander zu debattieren, sich auszutauschen, verschiedene Meinungen zu hören. Und natürlich gehört zum Studium auch das Campusleben. Deswegen müssen auch die Hochschulen offen bleiben.

Frage: Kürzlich ist unter einigen Wissenschaftlern großer Unmut entstanden, weil Forschungsprojekte durch das Bundesbildungsministerium (BMBF) gekürzt oder vorzeitig beendet wurden. Konkret war etwa das sogenannte BioTip-Projekt an der Freien Universität Berlin betroffen, das die gesellschaftlichen Auswirkungen und Ursachen der Naturzerstörung im Amazonasgebiet untersucht. In einem offenen Brief vom Juni zitieren die Wissenschaftler die offizielle Begründung der Projektträger: Es gehe um „neue Schwerpunktsetzungen hin zu Forschungsaktivitäten, die einen schnellen Impact erzeugen“. Ist das auch für das BMBF der Grund für Kürzungen?

Stark-Watzinger: Ich möchte zunächst klarstellen: Es wurde nicht in laufende Projekte eingegriffen, und es musste auch kein Forschungsvorhaben aus Kostengründen abgebrochen werden.

Frage: Gilt das auch für das BioTip-Projekt?

Stark-Watzinger: Sämtliche derzeit unter BioTip geförderten Projekte kommen nächstes Jahr mit Forschungsergebnissen zum Abschluss. Was Sie ansprechen, ist ein Folgeprojekt, also ein neues Projekt. Wir haben nicht in laufende Verträge eingegriffen, das würden wir nicht machen. Natürlich ist die Erforschung des Klimawandels ein sehr wichtiges Thema. Ich kann die Enttäuschung der Forscherinnen und Forscher verstehen, weil die Hoffnung auf Förderung da war. Aber wir haben immer klar kommuniziert: Die Förderung ist erst dann bewilligt, wenn der formale Förderbescheid da ist.

Frage: Und wie sieht es mit der zitierten Schwerpunktverlagerung zur Forschung mit „schnellem Impact“ aus? Ist das die neue Linie des BMBF?

Stark-Watzinger: Nein. Das ist nicht meine Wortwahl, und das ist auch nicht unser Ansinnen. Darum geht es überhaupt nicht.

Frage: Warum wurde dann ausgerechnet dieses Projekt gekürzt? Wäre es so viel teurer gewesen als andere Forschungsvorhaben?

Stark-Watzinger: Allen muss klar sein, dass die Haushaltslage schwierig ist. Grund dafür ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Folgen. Hinzu kommen in meinem Haus die unfinanzierten Versprechungen der Vorgängerregierung, die eine zusätzliche Herausforderung darstellen. Deshalb können leider nicht alle Anschlussprojekte gefördert werden.

Frage: Was ist Ihnen als FDP-Politikerin in der Wissenschaft denn besonders wichtig?

Stark-Watzinger: Dass wir sowohl die Grundlagenforschung als auch die angewandte Forschung gut ausstatten. Wissenschaft hat uns so stark gemacht. In der Zeit der Aufklärung waren Hochschulen die Power-Häuser, die zwischen Glauben und Wissen unterschieden haben. Thomas Zurbuchen, der Wissenschaftsdirektor der Nasa, hat kürzlich gesagt: Wissenschaftler sind professionelle Zweifler, und sie erweitern unsere Denkräume. Er hat recht: Es geht darum, die nicht bekannten Wege zu gehen.

Frage: Gilt das auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften?

Stark-Watzinger: Ja, die sind genauso wichtig wie die Naturwissenschaften.

Frage: Wie steht es mit der Wissenschaftsfreiheit? Vor kurzem gab es eine heftige Debatte über einen Vortrag zum Thema Genderforschung von Marie-Luise Vollbrecht, den die Humboldt-Universität zu Berlin abgesagt hat – aus Sorge vor eskalierenden Protesten. Vollbrecht vertritt die Ansicht, es gebe nicht mehr als zwei biologische Geschlechter; das wurde ihr in manchen studentischen Gruppierungen als Transfeindlichkeit ausgelegt. Verstoßen solche Vorfälle, die Kritiker als Cancel Culture bezeichnen, gegen die Freiheit der Wissenschaft?

Stark-Watzinger: Wissenschaftsfreiheit ist ein ganz wichtiges Thema, auch mit Blick auf internationale Kooperationen. Wir können stolz darauf sein, den ersten Platz beim Academic Freedom Index zu belegen. Die Hochschulen und die Wissenschaft sind frei, das ist im Grundgesetz klar definiert. Sie haben aber auch eine Verantwortung. Die Absage an der Humboldt-Universität wurde mit Sicherheitsbedenken begründet, nachdem zu einer Demonstration aufgerufen wurde. Das finde ich höchst problematisch. Es wurde der Eindruck erweckt, man schrecke vor einer kritischen Debatte zurück. Hegels Ansatz – These, Antithese, Synthese – ist da ein guter Wegweiser. Wir brauchen die offene Debatte, gerade an Hochschulen.

Frage: Recherchen von ZEIT Campus belegen, dass unter Ihrer Amtsvorgängerin das BMBF Corona-Nothilfen für Studenten verschleppt hat. Viele gingen leer aus, bekamen zu wenig oder erhielten die Zahlungen zu spät. Was ist da im Ministerium schiefgelaufen?

Stark-Watzinger: Die Zuschüsse für Studierende in der Corona-Pandemie entstanden in der Verantwortung der alten Hausleitung. Für mich ist klar: Wenn junge Menschen in einer solchen Krise in existenzieller Not sind und ihr Studium deshalb gefährdet ist, brauchen sie unsere Unterstützung. Deshalb haben wir bereits im Mai einen dauerhaften Nothilfemechanismus im Bafög auf den Weg gebracht.

Frage: In Deutschland gibt es gegenwärtig einen dramatischen Fachkräftemangel, bei einer gleichzeitig stark gestiegenen Akademisierung. War es falsch, dass die deutsche Bildungspolitik jahrzehntelang auf eine höhere Abiturientenquote gesetzt hat?

Stark-Watzinger: Das darf man nicht gegeneinander ausspielen. Wir müssen deutlicher machen, dass beide Bildungswege – der akademische und der berufliche – unterschiedlich, aber gleichwertig sind. Die berufliche Bildung hat in Deutschland mit der dualen Ausbildung eine sehr hohe Qualität; in anderen Ländern muss man für ein vergleichbares Niveau studieren. Wir brauchen dringend mehr Fachkräfte. Deshalb müssen wir sowohl das Potenzial im Inland heben als auch mehr Fachkräftezuwanderung organisieren.

Frage: Wäre es Ihnen lieber, wenn weniger Schüler Abitur und stattdessen Real- oder Hauptschulabschlüsse machten?

Stark-Watzinger: Entscheidend ist, dass wir die Durchlässigkeit im System stärken. Warum nicht Abitur und dann eine Ausbildung machen? Oder Realschulabschluss, Ausbildung und später eine akademische Bildung nachholen?

Frage: Wie sähe die ideale Einstellung zur Bildung aus, damit Sie als Repräsentantin der FDP zufrieden wären?

Stark-Watzinger: Man sollte mit der Bildung früh anfangen und nie aufhören. Ich wünsche mir, dass die frühkindliche Bildung ausgebaut wird, dass es toll gemachte Ganztagsschulen gibt, die sich auch öffnen zu außerschulischen Lernorten, dass Schulen und Hochschulen digitaler werden und lebenslanges Lernen selbstverständlich ist. Das eröffnet jeder und jedem Chancen und schafft eine Vielfalt an Lebenswegen.

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