Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bezweifelt, dass die geplanten IfSG-Änderungen zu Ausgangsbeschränkungen verfassungskonform sind. Unter anderem fehle es an notwendigen Ausnahmen für Geimpfte.
Die von der Bundesregierung geplante einheitliche Notbremse im Kampf gegen die rapide steigenden Corona-Infektionszahlen stößt bei immer mehr Jurist:innen auf Bedenken. Jetzt äußerte auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages verfassungsrechtliche Zweifel an den Maßnahmen. In einem vom 15. April datierten Gutachten, das LTO vorliegt, halten es die Parlamentsjurist:innen für „zweifelhaft, ob die geplante nächtlichen Ausgangsbeschränkungen einer abschließenden verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten.“ Dass zehn „eingriffsintensive Maßnahmen“ von einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern abhingen, werfe gewichtige Fragen im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit auf, heißt es in dem Gutachten.
Zur Eindämmung des Coronavirus soll künftig bundesweit eine automatische Notbremse ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 gelten. Die bundesweit einheitlichen Schutzvorkehrungen werden in einem neuen Paragrafen 28b des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) konkret aufgeführt, darunter Kontaktbeschränkungen sowie Auflagen für Freizeiteinrichtungen, Geschäfte, Kultur, Sport oder Gaststätten. Die Bundesregierung wird mit dem Gesetz außerdem dazu ermächtigt, bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 durch Rechtsverordnungen Gebote und Verbote zu erlassen. Solche Rechtsverordnungen bedürfen der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat.
BT-Gutachten: „Schwellenwert 100 ist zu niedrig“
Vorgesehen ist darunter auch eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 21 Uhr und 5 Uhr. Letztere sei „kritisch zu bewerten“, lautet nun die Warnung der Bundestagsjurist:innen. Zweifel bestehen für sie vor allem an der Angemessenheit der Maßnahme. Sie kritisieren, dass die Ausgangsbeschränkungen bereits bei einem Inzidenzwert von 100 greifen sollen. „Dieser Schwellenwert dürfte zu niedrig angesetzt sein“, heißt es in dem Gutachten.
Weiter kritisieren der Wissenschaftliche Dienst, dass im sog. Vierten Bevölkerungsschutzgesetz jegliche „notwendige Ausnahmen“ für Geimpfte fehlten. Diese müssten ergänzt werden, lautet die Empfehlung. Schließlich seien Verfassungsrechtler „ganz überwiegend (falls nicht sogar einhellig)“ der Auffassung, dass Grundrechtseingriffe für Geimpfte grundsätzlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. Im Gutachten heißt es hierzu: „Insbesondere sind Gedanken der allgemeinen Solidarität oder die Gefahr einer ‚Unruhe‘ unter den Nicht-Geimpften keine Verfassungsgüter, die sich mit Grundrechten der Geimpften abwägen lassen oder diese überwiegen. Der Gesetzgeber müsste daher grundsätzlich Ausnahmen vorsehen. Lediglich in Einzelfällen, bei übermäßigem organisatorischem Aufwand für eine ‚Sonderbehandlung‘ für Geimpfte, z. B. im täglichen Personennahverkehr, ließe sich daran denken, von Ausnahmen für Geimpfte abzusehen.“
Trotz seiner verfassungsrechtlichen Zweifel sieht der Wissenschaftliche Dienst in der aktuellen Lage den Bundesgesetzgeber durchaus in der Pflicht, zum Schutz der Bevölkerung tätig zu werden. Er habe habe dabei auch einen „großen Gestaltungsspielraum“, heißt es.
Unterdessen stießen bei der ersten Lesung des Gesetzes am Freitag im Bundestag die Pläne der Bundesreguierung auf heftige Gegenwehr. Redner:innen von FDP, Linken und AfD warfen der Regierung in einer von Zwischenrufen und harten Vorwürfen geprägten Debatte vor, den Bürgern unzumutbare und nicht zu rechtfertigende Auflagen zumuten zu wollen.
FDP will ggf. vors BVerfG ziehen
FDP-Partei- und Fraktionschef Christian Lindner drohte der Bundesregierung sogar mit Verfassungsbeschwerden gegen die geplante Bundes-Notbremse: „Es ist richtig, dass nun bundeseinheitlich gehandelt wird“, sagte er. Die geplanten Regelungen zu nächtlichen Ausgangsbeschränkungen seien aber „verfassungsrechtlich hochproblematisch“. Man werde Vorschläge machen, dieses Gesetz verfassungsfest zu machen. Für den Fall, dass die Koaltionsfraktionen auf die Bedenken nicht eingingen, werde sich die FDP-Fraktion gezwungen sehen, „den Weg nach Karlsruhe im Wege von Verfassungsbeschwerden zu gehen.“ Bisher hätten die geplanten Regelungen etwa zur Folge, „dass ein geimpftes Ehepaar aufgrund eines Ausbruchs kilometerweit entfernt in einem einzelnen Betrieb daran gehindert wird, alleine nach 21 Uhr vor die Tür zu treten zum Abendspaziergang“, so der FDP-Chef.
Der FDP-Fraktionsvize im Bundestag, Stephan Thomae, begrüßte gegenüber LTO das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes: Dieser habe in eindrucksvoller Deutlichkeit die in der geplanten Bundes-Notbremse vorgesehenen pauschalen Ausgangssperren sowie das alleinige Abstellen auf den Inzidenzwert kritisiert. „Diese Kritik teilen wir vollumfänglich. Ausgangssperren sind massive Eingriffe in die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger, die auch epidemiologisch kaum zu rechtfertigen sind“, so Thomae. In der Abwägung mit der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte seien pauschale Ausgangssperren im Ergebnis jedenfalls nicht angemessen und daher verfassungswidrig.
Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigte indes in der Debatte die Pläne. Andere Staaten hätten solche Maßnahmen „zum Teil erheblich restriktiver“ praktiziert. „Es geht darum, abendliche Besuchsbewegungen von einem Ort zum anderen – im Übrigen auch unter Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs – zu reduzieren.“ Die Vorteile überwögen. „Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen – wer sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden?“, so Merkel.
Original Content:
LTO.de – 17.04.21 – 08:00 Uhr
Mit Material von dpa
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