Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Johannes Vogel gab der „Welt“(Freitag-Ausgabe) und „Welt Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Thorsten Jungholt:
Frage: Welche Lehren sollte die nächste Bundesregierung aus dem gescheiterten Afghanistan-Einsatz ziehen, Herr Vogel?
Vogel: Die Kanzlerin sagte: Der Abzug aus Afghanistan hat gezeigt, was wir außenpolitisch können und was nicht. Ich finde, er hat vor allem gezeigt, dass wir zu wenig können. Unsere großartigen Soldatinnen und Soldaten haben bei der Evakuierung erreicht, was angesichts der katastrophalen Situation noch möglich war.
Dass die Evakuierung so nötig war, belegt aber erstens, dass nicht vorausgedacht wird. Wenn der Außenminister sagt, es sei nicht Basis seiner Annahmen gewesen, dass die Taliban so schnell das ganze Land übernehmen, dann spielte der Worst Case als Szenario offenbar keine Rolle, obwohl ihm sogar Hinweise aus der Botschaft in Washington vorlagen. Das ist unverantwortlich.
Zweitens haben wir gesehen, dass es mangels Fähigkeiten nie denkbar war, der konkreten Durchführung des Abzugs durch die USA eigene Vorstellungen entgegenzusetzen. Das ist Ausdruck einer Strategie-Armut, die ich auch an anderen Stellen registriere – zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit dem autoritären System der Kommunistischen Partei (KP) in China.
Frage: Wenn die Europäer nicht in der Lage waren, den Kabuler Flughafen ohne die USA offenzuhalten: Was sagt das über die militärischen Fähigkeiten der Europäischen Union?
Vogel: Dass sie nicht ausreichen. Wobei das nicht heißt, dass es diese Fähigkeiten in den Mitgliedstaaten nicht gibt. Aber sie sind nicht integriert, die Zusammenarbeit in Form einer schlüssigen Aufgabenverteilung muss an Schlagkraft gewinnen. Hinzukommen muss, und das ist der Schlüssel, ein gemeinsamer außenpolitischer Wille Europas. Wir brauchen Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeit.
Es geht aber auch darum, dass die nationalen Regierungen eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik dann auch innenpolitisch verantworten. Wir erleben in Deutschland aber oft einen vulgär-pazifistischen Ausdruckstanz, wenn es um die Frage von Handlungsfähigkeit und Ausrüstung der Bundeswehr geht. Die Regierungspartei SPD ist nicht mal bereit, unsere Truppe zum eigenen Schutz mit bewaffneten Drohnen auszustatten. So können wir Europa natürlich nicht prägen.
Frage: Christian Lindner möchte Finanzminister werden. Was würde er der Bundeswehr denn an Geld zur Verfügung stellen?
Vogel: Die FDP bekennt sich nicht nur zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato, sondern hat sich im Wahlprogramm für ein Drei-Prozent-Ziel für verteidigungs-, außen- und entwicklungspolitische Ausgaben ausgesprochen. Wer von einem sicherheitspolitisch vernetzten Ansatz spricht, muss das auch finanziell hinterlegen.
Frage: Die Bundesregierung hat gerade eine Fregatte in den Indopazifik entsendet. Was ist das: ein starkes Zeichen der Solidarität mit den Anrainerstaaten Chinas – oder Selbstüberschätzung eines Landes, das nicht einmal seine Verpflichtungen in der Nato erfüllt?
Vogel: Natürlich wird Deutschland im Pazifik nie eine prägende militärische Rolle spielen. Aber sich überhaupt für diese Region verantwortlich zu fühlen, ist ein richtiges Signal. Es gilt, die strategische Herausforderung durch Xi Jinpings KP überhaupt erst einmal anzunehmen. Nur: Wenn es dann nicht einmal die Bereitschaft gibt, durch die Taiwan-Straße zu fahren, ist dieses Symbol natürlich wenig wert.
Der neue Systemwettbewerb ist von ganz anderer Art als der Kalte Krieg, aber ähnlich tiefgreifend. Wir haben mit dem Durchdenken bestenfalls begonnen. Für eine kohärente Strategie müssen wir über die sicherheits-, wirtschafts- und handelspolitischen Dimensionen reden. Dazu habe ich übrigens von allen drei Kanzlerkandidaten nichts gehört.
Frage: Sollte sich Deutschland in Sachen China an der Seite der USA positionieren – oder einen anderen Ansatz wählen?
Vogel: Der Westen sollte sich dieser Herausforderung unbedingt gemeinsam stellen. Und die Biden-Regierung bietet Gott sei Dank wieder die Chance dazu, bei allen Meinungsverschiedenheiten über das Ende des Afghanistan-Einsatzes.
Voraussetzung ist aber, dass Europa auch zu mehr Verantwortungsübernahme bereit ist. Es kann dabei ja sinnvoll sein, dass die Amerikaner sich stärker um den Pazifik kümmern und wir in Europa und seiner Nachbarschaft mehr tun. Europa kann zudem anderswo vorangehen.
Frage: Nämlich?
Vogel: Wir brauchen mehr Innovationskraft und mehr Freihandels- und Investitionsabkommen mit marktwirtschaftlichen Demokratien in anderen Weltregionen. Einerseits transatlantisch. Für die Grünen war das amerikanische Chlorhuhn noch vor Kurzem die größte strategische Bedrohung. Deswegen haben wir heute kein TTIP. Das müssen wir ändern. Und wir müssen endlich CETA ratifizieren. Mit wem wollen wir überhaupt frei handeln, wenn nicht einmal mit den Kanadiern?
Aber auch in Asien liegt vieles brach. Der letzte deutsche Wirtschaftsminister in Malaysia war Michael Glos (CSU), das sagt vieles. Und ich finde, es braucht auch außenpolitisch eine globale Definition des Terminus „der Westen“. Es gibt keine politische Organisation mit Ausnahme der OECD, wo etwa die nordamerikanischen, die europäischen und die pazifischen Demokratien wie Japan, Südkorea, Australien oder Neuseeland zusammenkommen, um unter sich strukturiert über sicherheitspolitische Herausforderungen zu reden.
Auch Struktur schafft Strategie. Es braucht eine demokratische Allianz.
Frage: Klingt wie die Allianz der Multilateralisten von Heiko Maas (SPD)…
Vogel: Im Gegenteil, Heiko Maas hat das gemeint als Zusammenschluss gegen Amerika unter Trump. Ich glaube, ein globaler Westen, alle marktwirtschaftlichen Demokratien, müssen sich gemeinsam der normativen und strategischen Herausforderung durch die Kommunistische Partei Chinas stellen.
Frage: Lassen sich die außenpolitischen Vorstellungen der FDP an der Seite von SPD und Grünen in einer Ampel verwirklichen?
Vogel: Neben den gravierenden steuer- und sozialpolitischen Unterschieden lässt mich in der Tat auch der freihandels- und sicherheitspolitische Auftritt von SPD und Grünen oft verstört zurück. Für mich heißt das: Die Freien Demokraten müssen bei der Bundestagswahl möglichst stark werden, damit es rechnerisch keine Mehrheit für Rot-Grün-Rot oder Schwarz-Grün gibt und wir in Verhandlungen über eine mögliche Regierung die richtige Richtung prägen können.
Frage: Christian Lindner hat am Dienstag im Bundestag gesagt: Herr Scholz führt zwar im Moment in den Umfragen, aber auch als stärkste Kraft muss er nicht Kanzler werden. Was heißt das?
Vogel: Dass wir in einem neuen Parteiensystem mit vier mittelgroßen Parteien angekommen sind. In dem geht es weniger darum, wer stärkste Partei ist, sondern mehr darum, welche Mehrheit sich auf eine gemeinsame Richtung für das Land verständigen kann.