KUBICKI-Gastbeitrag: Die Freiheit muss nicht begründet werden

Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende und Vizepräsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Kubicki schrieb für „Zeit Online“ den folgenden Gastbeitrag in Erwiderung auf einen Beitrag von Armin Nassehi:

Pressefoto Wolfgang Kubicki fdp.de

Ich hoffe, ich tue Herrn Nassehi nicht unrecht, wenn ich seine bisweilen etwas vagen Zusammenhänge und Andeutungen in einem Satz so zusammenfasse: Die vorgebrachten Anliegen der FDP in der Corona-Politik sind nicht berechtigt, denn die (durchaus respektable) liberale Staatsskepsis-Tradition wurde in der aktuellen Frage grundlos überdosiert, daher wurzelt der heutige politische Egoismus der Partei in evidenzbefreiter Bockigkeit.

Vor allem die Maskenpflicht im öffentlichen Raum sei als einfache Public-Health-Maßnahme beizubehalten, so Nassehi. Ihre weitgehende Abschaffung im Infektionsschutzgesetz sei deshalb unverantwortlich, weil dies in immer noch steigendes Infektionsgeschehen hinein geschehe. Dass Deutschland Rekordinzidenzen von zum Teil 300.000 Infektionen pro Tag verzeichnet, obwohl die Maskenpflicht und andere grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen immer noch gelten, empfindet er offensichtlich nicht als Widerspruch. Der Wissenschaftler Nassehi fragt nicht, ob Omikron vielleicht ein grundsätzliches Umdenken nötig macht, vielleicht so, wie es unsere europäischen Nachbarn reihenweise getan haben. Vielmehr klagt er diejenigen an, die die europäische Diskussion zum Vorbild nehmen und ein solches Umdenken auf der Grundlage neuer Erkenntnisse fordern.

Klar ist, viele Maßnahmen, die vielleicht noch bei Delta wirksam waren, sind es bei der neueren Variante nicht mehr. Der bloße Nabelblick auf das deutsche Corona-Wesen (oder, wenn es gerade argumentativ passt, auch noch auf das angeblich gescheiterte österreichische) macht deutlich, dass sein etwas billiger Vorwurf der unverantwortlichen Evidenzfreiheit nicht nur die Freien Demokraten trifft. Die Maskenpflicht wurde zum Beispiel ganz oder – wie nun in Deutschland – teilweise abgeschafft in: Belgien, Polen, Dänemark, England, Niederlande, Norwegen – um nur einige zu nennen. Die Frage stellt sich: Ist Deutschland eine Insel, auf der Omikron die Menschen ganz anders befällt, oder haben die europäischen Freunde ebenfalls die freiheitliche Schrumpfvariante des „Ich will“ zum obersten politischen Ziel erkoren, wie es Nassehi behauptet?

Nassehi schreibt, dass das Zurücknehmen des staatlichen Eingriffs als symbolisches Einläuten des Pandemieendes falsch zu verstehen sei. Dem widerspreche ich. Die Rücknahme der Maßnahmen ist unter den gegebenen Bedingungen mit einer deutlich weniger pathogenen Corona-Variante vielmehr verfassungsrechtlich zwingend. Wer aber meint, nach über zwei Jahren Pandemieerfahrung noch auf staatliche Symbolpolitik setzen zu müssen, um die Menschen nicht in „falscher“ Sicherheit zu wiegen, glaubt offensichtlich nicht daran, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ausreichend mündig sind und eigenverantwortlich handeln können.

Es ist eine verfassungsrechtliche Banalität, aber dennoch sei sie erwähnt: Grundrechte sind Abwehrrechte der Bürger gegenüber dem Staat. Wäre staatliches Handeln stets korrekt und verfassungskonform, könnten wir uns die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit sparen. Vor diesem Hintergrund ist die erwähnte „Hermeneutik des Verdachts“, kein Vorwurf, der trifft, sondern wird in rechtsstaatlichen Institutionen abgebildet. Zumal die Ministerpräsidenten in der – verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen – Bund-Länder-Runde des Öfteren bewiesen haben, dass rechtliche Erwägungen im Zweifel dem politischen Willen untergeordnet werden konnten. Als Beispiele seien genannt: die rechtswidrige 15-km-Leine um den eigenen Wohnort, die Osterruhe oder Hunderte obergerichtliche Entscheidungen, die exekutive Corona-Maßnahmen schon im Eilverfahren aufhoben.

Dass sich die Ministerpräsidenten in ihrer Alleinverfügungsgewalt ganz wohlfühlten, war und ist eigentlich so offensichtlich, dass der gänzlich ungetrübte Vertrauensüberschuss Nassehis überrascht. Wenn der Corona-Kurs auch als taktisches Mittel im Kampf um die Unionskanzlerkandidatur missbraucht wird, wenn Landesväter, wie der abgewählte Tobias Hans, den Ungeimpften die zynische Botschaft überbringt, sie seien jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben, oder wenn Winfried Kretschmann ausdrücklich unverhältnismäßige Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung in Erwägung zieht, dann halte ich dies für problematisch. Denn dann kann man große Zweifel daran haben, dass die ans Recht gebundene Freiheitsvermutung unserer Verfassung bei den Ministerpräsidenten immer auf die nötige Resonanz gestoßen ist.

Volker Bouffier beklagte in seiner Bundesratsrede zur Novelle des IfSG am 18. März ernsthaft, dass er nun keine Maßnahmen mehr ergreifen könne, weil das Gesundheitssystem in Hessen nicht annähernd vor der Überlastung stehe. Damit sagte er implizit, dass er auch ohne ausreichenden Anlass grundrechtsbeschränkende Maßnahmen ergreifen wollte. Sollte der Bundesgesetzgeber Herrn Bouffier diese Möglichkeit trotzdem geben, damit er sich etwas besser fühlt?

Ich bestreite nicht, dass es einen Kulturkampf in Deutschland über die Corona-Politik gibt. Anders als Nassehi würde ich dies darauf zurückführen, dass die deutsche Corona-Politik zu lange im Hinterzimmer des Kanzleramtes gemacht wurde. Diese Runden waren so intransparent, dass zum Beispiel eine offizielle schriftliche Frage von mir an die Bundesregierung, welche Wissenschaftler im Vorfeld der MPK im November 2020 konsultiert wurden, nicht konkret beantwortet wurde. Niemand sollte Angela Merkel in die Daten schauen. Wer meint, damit das Vertrauen in die Maßnahmen zu erhöhen, der sollte sich vielleicht einmal vom österreichischen Verfassungsgerichtshof belehren lassen. Dieser stellte vor einiger Zeit nämlich fest, dass Entscheidungen unter Unsicherheiten einhergehen müssten mit der größtmöglichen Transparenz und mit der Offenlegung der Entscheidungsgrundlagen, um für alle nachvollziehbar zu machen, warum sich der Verordnungsgeber wie entschieden hat. In Deutschland kann man nicht einmal die Stellungnahmen der „sachkundigen Dritten“ einsehen, auf die sich das Bundesverfassungsgericht bei seinen Entscheidungen zur Bundesnotbremse gestützt hat.

Unsicherheiten wurden also zu wenig transparent erläutert, vielmehr wurde viel zu lange behauptet, dass die Härte der Maßnahmen den Erfolg der Maßnahmen bestimme – was ziemlich fragwürdig ist. Plötzliche Volten, die in einer solchen unsicheren Lage selbstverständlich immer nachvollziehbar sind, wurden nicht angemessen erklärt. Nachweise über die Wirksamkeit der Maßnahmen wurden weder erbracht noch nachgeliefert. Wer danach gefragt hat, wie die eingesetzten Maßnahmen im Einzelnen gewirkt haben, wie es die FDP-Fraktion in der vergangenen Legislaturperiode mehrfach tat, der erhielt die – hier freilich verkürzte – Antwort der Bundesregierung: Wissen wir nicht. Dies war aber auch egal, man setzte die Einschränkungen einfach weiter fort und schraubte sie noch fester. Evidenzbasierte Politik war das jedenfalls weitgehend nicht. Und dass die Ministerpräsidenten jetzt die Möglichkeit behalten wollen, die infektiologisch vollkommen wirkungsfreien 2G-Maßnahmen ergreifen zu dürfen, weil sogar Geboosterte infektiös sein können, hat nichts mit wissenschaftlicher, aber viel mit politischer Herangehensweise zu tun.

Die selbstgerechte Kommunikation der Maßnahmenpolitik war der Kardinalfehler der Regierung Merkel, der zu diesem Kulturkampf geführt hat. Unsicherheiten wurden als Gewissheiten umbehauptet, sodass der Widerspruch – egal, ob begründet oder nicht – automatisch als Angriff auf die Wahrheit definiert wurde. Erst so konnte eine gesellschaftliche Spaltung entstehen, die mittlerweile ins Unerbittliche führt. Dass Armin Nassehi den Widerstreit nun an der Maske hochstilisiert, sei ihm überlassen. Zu beachten ist aber, dass alle Grundrechtseingriffe stets an der Überlastung des Gesundheitssystems festgemacht wurden. Droht diese nicht mehr, sind die Beschränkungen von Verfassungs wegen aufzuheben – dazu gehört auch die Maskenpflicht im öffentlichen Raum. Wer das Bestehen auf diese klare rechtsstaatliche Konsequenz als Banalisierung des Freiheitsbegriffes versteht, dem kann ich leider nicht helfen.

Die FDP hat mit den Koalitionspartnern hart verhandelt. Das Ergebnis, das sich im IfSG niedergeschlagen hat, ist ein politischer Kompromiss. Die Freien Demokraten haben sich ebenso wenig wie die Grünen oder die Sozialdemokraten auf ganzer Linie durchgesetzt. Und selbstverständlich hat meine Fraktion auch über den eigenen Kurs intern gerungen. Dass Nassehi einfach erklärt, in der FDP würden „die Dinge bei Weitem nicht so diskutiert“, ist ziemlich falsch und sehr überheblich.

Nicht die Freiheitsgewährung muss erklärt und begründet werden, sondern die Einschränkung der Freiheit. Das ist nicht banal, dumm oder querdenkerisch, sondern ein tragender Pfeiler unserer Verfassungsordnung. Ich wehre mich dagegen, wenn vor allem in weiten Teilen der veröffentlichten Meinung dieses Prinzip umzukehren versucht wird. Wer eine Begründungsumkehr für Freiheitseinschränkungen betreibt, muss sich nicht über einen Kulturkampf beklagen. Denn er beschwört diesen Kulturkampf selbst herauf.

Ein Kommentar

  1. „Freiheit braucht nicht begründet werden“ —->
    Irrsinn und falsch verstandene Paragraphenreiterei braucht nicht begründet werden.
    Die FDP hat sich aus aller menschlichen Vernunft verabschiedet – und keiner wird ihr nachweinen.

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