Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr gab der „Wirtschaftswoche“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Daniel Goffart und Max Haerder:
Frage: Herr Dürr, kommt Ihnen der folgende Satz bekannt vor: „Es gibt im Haushalt genug Spielraum für die steuerliche Entlastung der arbeitenden Mitte“?
Dürr: Mutmaßlich von mir oder von Christian Lindner.
Frage: Es war der heutige Bundesfinanzminister, der im Wahlkampf steuerliche Entlastungen von 30 Milliarden Euro versprach. Wir fragen uns: Wo sind die?
Dürr: Das Versprechen lautete: keine Steuererhöhung und Einhalten der Schuldenbremse – beide erfüllt der Koalitionsvertrag. Zusätzlich hat Christian Lindner gerade erst eine Entlastung in Höhe von exakt 30 Milliarden Euro in Aussicht gestellt.
Frage: Wo soll das Geld denn herkommen?
Dürr: Ab dem Bundeshaushalt 2023 müssen wir uns wieder an die Schuldenbremse halten. Wir sind uns in der Koalition einig, dass wir die Ausgaben kritisch überprüfen – und zwar dort, wo sie nicht der Bekämpfung der Pandemie oder des Klimawandels dienen.
Frage: Jahrelang war die „kalte Progression“ das Topthema Ihrer Partei. Jetzt ist sie wegen der hohen Inflation deutlich zu spüren. Aber von der FDP und der Ampelkoalition ist nichts zu hören.
Dürr: Wir planen die baldige Abschaffung der EEG-Umlage als Entlastung ….
Frage: … die erst in einem Jahr kommt und durch die höheren Energiepreise bereits aufgefressen wird.
Dürr: Aber die Inflation dürfte ja nicht immer so hoch bleiben. Hier ist die EZB gefordert, gegenzusteuern. Ich bin dankbar, dass der neue Bundesbankpräsident da ähnlich denkt wie sein Vorgänger.
Frage: Die kalte Progression ist jetzt ein Thema. Was planen Sie, um diese heimliche Steuererhöhung zu stoppen?
Dürr: Wir werden in Kürze einen Progressionsbericht bekommen, und dann müssen wir darüber reden, welche Konsequenzen wir daraus in der Steuerpolitik ziehen. Die Koalition hat ein Interesse daran, die kleinen und mittleren Einkommen nicht über Gebühr zu belasten.
Frage: Klingt jedoch alles nicht nach großer Entlastung.
Dürr: Wirklich entscheidend für neue Entlastungsspielräume im Haushalt wird sein, dass wir die riesigen Ausgaben der Sozialversicherung und die zugrunde liegende demografische Herausforderung anpacken. Wir schießen jährlich allein über 100 Milliarden Euro zur gesetzlichen Rentenversicherung zu.
Frage: Das ist bekannt. Die Frage ist: Was wollen Sie tun?
Dürr: Strategien zum Umgang mit einer alternden Gesellschaft werden eines der Leuchtturmprojekte der Ampel.
Frage: Das bedeutet genau?
Dürr: Dass wir etwa in der Einwanderungspolitik sehr schnell und sehr gründlich umsteuern müssen. Der Fachkräftemangel ist mittlerweile so gravierend, dass er unsere Wirtschaft dramatisch abbremst. Wir bekommen die Überalterung am Arbeitsmarkt nur mit einer modernen Einwanderungspolitik in den Griff.
Frage: Der Chef der Bundesagentur für Arbeit spricht davon, dass wir jedes Jahr zusätzlich 400 000 Einwanderer für den Arbeitsmarkt benötigen. Richtig?
Dürr: Die Zahl ist absolut realistisch. Wir müssen die Marke von 400 000 zuwandernden Fachkräften so schnell wie möglich erreichen. CDU und CSU haben das Problem 16 Jahre lang ignoriert. Durch ihre Anti-Einwanderungspolitik hat sich die Union an den Wohlstandschancen junger Menschen vergangen.
Frage: Sehen Sie sich im neuen Amt als Fraktionschef eigentlich als Erfüllungsgehilfe der Regierung?
Dürr: Nein, ich sehe uns als Impulsgeber, aber auch als Teamplayer. Anders als die große Koalition wollen wir nicht Uneinigkeit zelebrieren und Gipfel veranstalten, um am Ende dann nichts zu machen. Wir haben nicht geheiratet, aber wir wollen uns vertrauen.
Frage: Viele FDP-Wähler haben gehofft, dass ihre Stimme in eine Koalition mit der Union mündet. Sind Sie auch das liberal-bürgerliche Korrektiv der Ampel?
Dürr: Ich vertrete in der Koalition nicht die Union. CDU und CSU sind zurzeit nicht regierungsfähig und deshalb zu Recht in die Opposition gewählt worden. Ich stehe mit meiner Fraktion für liberale Inhalte. Und wir versuchen davon so viele wie möglich in der Regierungspolitik umzusetzen.
Frage: Viele Mittelständler und Freiberufler haben FDP gewählt und hegen weiterhin die Erwartung, dass die FDP in der Ampel das Schlimmste verhindert.
Dürr: Ich denke nicht in diesen Kategorien. Eine Regierung sollte niemals den Anspruch haben, das Schlimmste zu verhindern, sondern das Beste zu machen. Wir haben im Koalitionsvertrag schließlich nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner definiert, sondern richtig große Projekte vereinbart: Einwanderung, Digitalisierung des Staates und der Bildung sowie der Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft.
Frage: Dazu gleich. Das drängendste Problem ist derzeit der Kampf gegen die Pandemie. Kanzler Olaf Scholz will eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren ohne ein Impfregister, die FDP sträubt sich dagegen. Hoffen Sie auf den Beifall der Querdenker?
Dürr: Nein. Eine mögliche Impfpflicht ist keine Frage von Parteigrenzen, das sieht auch Olaf Scholz so. Deshalb haben wir uns entschlossen, diese Frage als Gewissensentscheidung im Bundestag freizugeben.
Frage: Weder die Impfpflicht gegen Masern noch jene für bestimmte Berufe wurde als Gewissensfrage eingestuft. In Wahrheit ist die FDP in der Frage der Impfpflicht gespalten.
Dürr: Diese Lesart teile ich ausdrücklich nicht. Jede Impfpflicht ist ein Eingriff in die Freiheit. Eine mögliche Impfpflicht für 82 Millionen Menschen besitzt noch einmal ganz eine andere Dimension und muss noch sorgfältiger abgewogen werden. Es könnte am Ende eine zeitlich begrenzte Impfpflicht gegeben oder eine nur für bestimmte Altersgruppen. Oder es könnte ja auch sein, dass die Omikron-Variante den Einstieg in eine endemische Lage markiert. Dann wäre eine allgemeine Impfpflicht möglicherweise obsolet. Kurzum: Wir sollten das in Ruhe abwägen und nichts überstürzen.
Frage: Bei allem Respekt, aber wir erleben seit zwei Jahren eine Pandemie mit verheerenden Folgen, der Kanzler fordert eine Impfpflicht und die FDP will sich Zeit lassen? Sie versuchen zu kaschieren, dass die Regierung ohne eigene Mehrheit dasteht.
Dürr: Das stimmt nicht. Vor einem halben Jahr hat noch keine Partei eine Impfpflicht gefordert.
Frage: Vor einem halben Jahr war Wahlkampf, da hatten alle Angst vor den Wählern.
Dürr: Wir haben keine Angst. Aber stellen Sie sich doch kurz vor, wir würden jetzt eine Impfpflicht beschließen und dann bräuchten wir sie schon bald gar nicht mehr. Der Vertrauensschaden wäre enorm. Deshalb ist es richtig, diese Debatte sehr sorgfältig zu führen.
Frage: Wie werden Sie abstimmen?
Dürr: Ich weiß es noch nicht, weil da noch viele Fragen offen sind, die erst sorgfältig beantwortet werden müssen. Aber wenn es eine Pflicht geben sollte, dann möglichst ohne ein Impfregister und neue Bürokratie.
Frage: Bleiben wir beim Thema Corona. Mittlerweile müssen Betriebe und Selbstständige teilweise Hilfen wieder zurückzahlen, obwohl sie weiterhin in großen Schwierigkeiten stecken. Was zählt gerade mehr: Pragmatische Hilfe oder der penible Umgang mit Steuergeld?
Dürr: Robert Habeck hat da eine Lage von Peter Altmaier geerbt, um die ich ihn nicht beneide. Es zeigt sich einmal mehr, dass die Hilfen insgesamt zu kompliziert aufgesetzt waren. Aber das lässt sich nun nicht mehr ändern. Es zählt jetzt Pragmatismus.
Frage: Wäre eine außerordentlicher Erlass der Summen dann nicht ein gutes Zeichen an all die Betriebe, die sich tapfer durch Lockdowns gekämpft haben?
Dürr: Pragmatismus ja. Aber: Was auch nicht geht ist, Hilfen unter dem Namen Micky Maus abzugreifen. Das ist für alle Ehrlichen ein Tritt vors Schienbein.
Frage: Apropos Habeck: Vermissen Sie den Wirtschaftsminister eigentlich auch?
Dürr: Die Transformation der Wirtschaft ist zuerst eine privatwirtschaftliche Aufgabe. Das hat er gesagt. Und das hat mich gefreut. Wieso fragen Sie?
Frage: Weil er offenbar vor allem Klimaminister sein will.
Dürr: Diese Regierung muss insgesamt dafür Sorge tragen, dass die Rahmenbedingungen fürs gute Wirtschaften stimmen. Sollte sich das wider Erwarten in die falsche Richtung entwickeln, dann wird die FDP die Interessen des Mittelstandes wahren.
Frage: Geraten also angesichts der großindustriellen Energiewende die Interessen des Mittelstandes nicht aus den Augen?
Dürr: Das war meines Erachtens genau der Fehler Altmaiers. Herr Altmaier hat sich mehr um die Industrie und weniger um den Mittelstand gekümmert. Der Ampel aber ist klar, dass die großen Potenziale im Mittelstand liegen. Unsere Losung lautet: Gute Rahmenbedingungen statt gut gemeinter Subventionen.
Frage: Nun ja, die Ampel hat jüngst dennoch ungenutzte 60 Milliarden Euro im Energie- und Klimafonds geparkt. Ein Großteil davon wird doch als Subvention der Industrie fließen.
Dürr: Wir wollen kein gigantisches Subventionssystem errichten, das könnte der Staat auch nicht leisten. Der Rahmen ist und muss der europäische Emissionshandel sein. Da kann es keine zwei Meinungen geben.