Corona hat die Schuldenbremse vergiftet

Symbol der deutschen Schuldenangst: Die Schuldenuhr des Bundes der Steuerzahler. (Foto: picture alliance / Andreas Gora)
Symbol der deutschen Schuldenangst: Die Schuldenuhr des Bundes der Steuerzahler. (Foto: picture alliance / Andreas Gora)

Nach Jahren „dogmatischer“ Haushaltspolitik im Zeichen der Schwarzen Null hat Deutschland in der Krise hunderte Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen. Der Ökonom Rudolf Hickel warnt davor, zum alten „verklemmten“ Umgang mit dem Thema und zu einer strikten Anwendung der Schuldenbremse zurückzukehren.

ntv.de: Vor einem Jahr begann der erste Lockdown, der auch der Startschuss für die großen – schuldenfinanzierten – Hilfs- und Ausgabenprogramme in Deutschland war. Nach den Jahren der schwarzen Null weisen die deutschen Staatsfinanzen erstmals wieder ein großes Defizit aus. Ist das eine der Not geschuldete kurze Episode oder ein Umbruch?

Rudolf Hickel: Um die Tragweite dessen, was da passiert, zu verstehen, muss man sehen, was vor der Corona-Krise galt. Deutschland wurde durch das Dogma des Staates ohne Neuverschuldung geprägt. So steht es seit 2011 im Grundgesetz: Die Bundesländer durften abgesehen von der konjunkturell zulässigen Kreditaufnahme keine Neuschulden mehr aufnehmen und der Bund nur im Umfang von 0,35 des Bruttoinlandsprodukts. Alles darüber hinaus galt als Verstoß gegen die Haushaltspolitik à la schwäbischer Hausfrau. Die zuvor geltende Goldene Regel wurde abgeschafft: Öffentliche Investitionen durften trotz des volkswirtschaftlichen und ökologischen Nutzens nicht mehr mit Krediten finanziert werden. Darin drückte sich ein tiefes Misstrauen vor allem gegen die Parlamente aus, denen die Kompetenz für eine solide Finanzpolitik mit dem Instrumentarium Kreditaufnahme nicht zugetraut wurde. Es galt die Überzeugung, dass nur verfassungsrechtliche Verbote uns davor bewahren können, unsolide Finanzpolitik mit Staatsschulden zu betreiben.

Und was hat die Corona-Krise daran verändert?

Natürlich gab es schon vor Corona unter Ökonomen ernsthafte Stimmen, die sahen, dass die Schuldenbremse als Zukunftsinvestitionsbremse wirkt. Aber die rechthaberische Politik der großen Mehrheit hat die vielen positiven Argumente in den Wind geschlagen. Und dann bricht die Corona-Krise mit dem Absturz der Staatseinnahmen und der unvermeidbaren Ausgabenexplosion herein. Der Staat nimmt in kürzester Zeit und ohne große Debatten hunderte Milliarde Euro Schulden auf – Länder und Bund 2020 allein 288 Milliarden Euro. In diesem Jahr plant allein der Bund wiederum eine Neuverschuldung über 240 Milliarden Euro. Wir sehen, dass wir die finanziellen Belastungen der Corona-Krise, alles in allem derzeit mehr als 1,32 Billionen Euro, ohne Kollateralschäden schuldenfinanzieren können. Nicht Streit, sondern die reale Krise hat das Tabu der Schuldenbremse gebrochen. Wir haben auch gesehen, dass die befürchteten Schreckensszenarien nicht eingetreten sind. Es hieß ja immer, wenn wir vom Sparkurs abweichen, verlieren die Finanzmärkte das Vertrauen und die Zinslast sowie die Inflation schießen in die Höhe. Aber das Gegenteil ist der Fall: Es gibt geradezu einen Run der Investoren auf den internationalen Finanzmärkten trotz Minusrenditen auf die neuen deutschen Schulden.

 

Aber das alles ist ja noch kein Paradigmenwechsel. In Union und FDP gibt es ja viele Stimmen, die eine schnelle Rückkehr zu solider Finanzpolitik und damit aus ihrer Sicht zur Schwarzen Null fordern.

Noch ist nicht entschieden, ob es zu einem dauerhaften Paradigmenwechsel in der deutschen Fiskalpolitik kommt. Die Frage, wer zahlt die Rechnung für die Schulden infolge der Corona-Krise, gewinnt an Wucht. Manche wollen die Schulden in der Tat möglichst schnell tilgen, so wie es in der Schuldenbremse im Grundgesetz auch vorgesehen ist. Diese Tilgungshektik würde, man kann es nicht anders sagen, eine gesamtwirtschaftliche, soziale und ökologische Katastrophe auslösen. Denn das würde Steuererhöhungen und drastische Einsparungen in den öffentlichen Haushalten erfordern. Mein Eindruck ist aber, dass das Rückzugsgefechte sind. Die durch Corona vergiftete Schuldenbremse zwingt zur Rückkehr zu einer auch für künftige Generationen soliden Nutzung der öffentlichen Kredite. Auch im konservativen Lager wird zumindest für eine Verlängerung der Zeit frei von der Schuldenbremse – angestoßen durch den Bundeskanzlerchef – nachgedacht. Auch werden Reformen in Richtung Lockerung diskutiert. Das wird im Wahlkampf sicher noch eine große Rolle spielen.

 

Welche Alternativen gibt es, mit den Schulden umzugehen?

Diese deutsche Debatte um die Rückkehr zur Schuldenbremse durch Rückzahlung ist dogmatisch verklemmt. In anderen Staaten wie Frankreich oder den USA ist diese Diskussion jetzt mitten in der Krise völlig undenkbar. Im Gegenteil, Joe Biden besteht mit seinem 1,9 Billionen US-Dollar-Programm auf die Schuldenfinanzierung zur Rettung und Stärkung der USA. Auch wir müssen lernen, die ideologisch getriebene Furcht vor der Staatsverschuldung zu überwinden. Denn erstens zahlt der Bund derzeit für seine Schulden nicht nur keine Zinsen, er nimmt sogar welche ein von den Finanzinvestoren. Zweitens ist auch die Inflation mittelfristig kein Problem, und drittens besteht sowohl bei Privathaushalten als auch bei Unternehmen ein großer Überschuss an Ersparnissen, die viel zu wenig für Sachinvestitionen eingesetzt werden. Diese Überschüsse muss der Staat abschöpfen und an die Gesamtwirtschaft zurückgeben. Und schließlich entlastet die Europäische Zentralbank mit ihrem auf die Pandemie bezogenen Anleihekaufprogramm im Umfang von 1,85 Billionen Euro die Eurostaaten bei deren Schuldenaufnahme.

 

Heißt das, wir können und sollten alle Beschränkungen für die Schuldenaufnahme aufgeben? Wie können wir verhindern, dass Staatsdefizite außer Kontrolle geraten und die Schuldenlast erdrückend wird, wie es in der Vergangenheit ja durchaus der Fall war.

Nein, wir brauchen wieder die Goldene Regel, also schuldenfinanzierte öffentliche Investitionen. In der Tat: Das frühere berechtigte Misstrauen gegen die öffentliche Investitionspolitik muss abgebaut werden. In der Vergangenheit wurde zeitweise alles Mögliche, bei weitem nicht nur Zukunftsinvestitionen, mit Schulden finanziert. Das darf sich nicht wiederholen. Das Entscheidende ist, dass wir nicht so wie in den letzten Jahren darüber diskutieren, wie viel Schulden wir machen können, sondern darüber, wofür wir das Geld ausgeben: Für Investitionen, von denen künftige Generationen profitieren, oder für unseren aktuellen Konsum?

Mit Rudolf Hickel sprach Max Borowski

Original Content:

NTV.de   –   05.04.21   –   07:30 Uhr

 

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