Kiel (dpa/lno) – Die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein verlangt Nachbesserungen an den Plänen des Bundes für einheitliche Regeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie. So dürfe eine nächtliche Ausgangssperre nicht automatisch ab 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen in Kraft treten, erklärte Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) am Montag nach Beratungen der Koalitionsspitzen. Vielmehr dürfe eine solche Maßnahme nur eine individuelle Ultima Ratio nach der Abwägung der regionalen Gegebenheiten sein.
Zudem sollte Einzelhandel weiterhin bei einer Inzidenz über 100 „Click & Collect“ anbieten dürfen, sagte Günther. Das bedeutet, dass Kunden bestellte Ware abholen können. Auch dürfe das Gesetz Modellregionen nicht verhindern, indem praktisch neue Beherbergungsverbote für Reisende aus Kreisen mit Inzidenzen von über 100 eingeführt werden.
„Es bleibt bei der grundsätzlichen Bereitschaft Schleswig-Holsteins, das Infektionsschutzgesetz so zu verändern, dass bei regional steigenden Inzidenzen über 100 überall in Deutschland mit gleicher Konsequenz gehandelt werden muss“, sagte Günther. Das klare Ziehen der Notbremse habe sich im Norden als sehr effektiv erwiesen. Ein Bundesgesetz müsse aber zielgenau wirken, sagte Günther. Das Kieler Prinzip „Draußen geht mehr als drinnen“ sei jetzt von führenden Aerosol-Forschern nachdrücklich unterstützt worden und sollte im Gesetz verankert werden.
„Da wir in vielen Regelungen, etwa bei Tests vor körpernahen Dienstleistungen, strenger sind, als der Gesetzesvorschlag es vorsieht, wollen wir die Möglichkeit erhalten, weiter nach unseren Regelungen zu verfahren“, betonte Günther. „Für die Akzeptanz in der Bevölkerung, die für einen Erfolg unerlässlich ist, dürfen wir in dieser entscheidenden Phase nicht mit vollkommen veränderten Regelungen die Menschen verwirren.“
Speziell aus FDP und CDU war im Norden Kritik an konkreten Einzelbestimmungen für Kreise mit hohen Corona-Zahlen gekommen, zum Beispiel an der Ausgangssperre und einer Schließung des Einzelhandels.
Die Bundesregierung will eine bundesweite Corona-Notbremse bereits an diesem Dienstag beschließen. Damit sollen einheitliche Regeln für Regionen mit hohen Corona-Zahlen festgeschrieben werden. Doch noch gibt es erhebliche Widerstände.
Die Infektionszahlen schnellen derweil nach oben. Die 7-Tage-Inzidenz stieg laut Robert Koch-Institut am Montagmorgen bundesweit auf 136,4 und damit auf den höchsten Wert seit 12 Wochen. Schleswig-Holstein stand am Montag bei 70,8, wie aus Daten des Gesundheitsministeriums in Kiel hervorging (Stand: 12. April, 18.36 Uhr). Das war der mit Abstand niedrigste Wert in Deutschland.
Die Zahl der für das Land gemeldeten bestätigten Corona-Neuinfektionen betrug 197 (Sonntag: 149). Die Zahl der an oder mit dem Virus gestorbenen Menschen stieg auf 1466. Es gab fünf neue Todesfälle. 200 Menschen werden den Zahlen vom Montag zufolge in Kliniken wegen Covid-19 behandelt – 44 von ihnen intensivmedizinisch. 28 wurden beatmet.
In einer Formulierungshilfe des Bundes wurden mehrere Maßnahmen für Landkreise mit einer Inzidenz ab 100 vorgeschlagen. Gestattet wären private Treffen nur noch eines Haushaltes mit einer weiteren Person – ohne Kinder insgesamt maximal fünf Personen. Vorgesehen sind zudem Ausgangsbeschränkungen von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr mit wenigen Ausnahmen. Erst ab einer Inzidenz von 200 sollen die Schulen schließen.
„Eine grundsätzliche Ausgangssperre bei einer Inzidenz von über 100 halte ich für völlig unangemessen“, sagte in Kiel Wirtschaftsminister Bernd Buchholz (FDP). Er lehnte Pandemiebekämpfung „mit dem Holzhammer“ ab. Buchholz hält auch das Verfahrenstempo der Bundesregierung für völlig unangemessen. Er verwies auf ungeklärte Probleme. Geplante Änderungen für den Einzelhandel oder eine Beschränkung der Personenzahl in Bussen und Bahnen auf die Hälfte seien praktisch nicht umsetzbar.
FDP-Fraktionschef Christopher Vogt sagte, Schleswig-Holstein brauche weder neue Vereinbarungen der Regierungschefs noch Gesetzesänderungen. Die FDP will keiner Regelung zustimmen, die bei Überschreitung einer 100er Inzidenz pauschale Ausgangssperren vorsieht. Diese sei nicht nur verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft, sagte Vogt. „Der konkrete Nutzen ist ebenfalls höchst umstritten, denn das nächtliche Partyleben hält sich gerade in den ländlichen Regionen doch in sehr engen Grenzen.“ Wenn einer der drei Koalitionspartner eine Gesetzesänderung ablehnt, müsste sich die Landesregierung laut Koalitionsvertrag im Bundesrat der Stimme enthalten.
In der jetzigen Fassung sei der Gesetzentwurf nicht ohne weiteres zustimmungsfähig, sagte Fraktionschef Tobias Koch. Er sorgt sich auch um die touristischen Modellprojekte. „Wenn Gäste aus Regionen mit einer Inzidenz über 100 trotz negativem Testergebnis nicht beherbergt werden dürfen, dann verlieren die Modellprojekte ihre bundesweite Aussagekraft“, sagte er. „Das Beherbergungsverbot für Personen aus Kreisen mit Inzidenzen über 100 sollte deshalb ebenfalls gestrichen werden.“
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RTL.de – 13.04.21 – 07:00 Uhr
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