Das FDP-Präsidiumsmitglied Moritz Körner schrieb für „Focus Online“ den folgenden Gastbeitrag:
Man sagt oft, die EU wächst an ihren Krisen. Über Ursula von der Leyen lässt sich das leider nicht sagen. Sie ist Merkels letzter im Amt verbliebener Schützling und in Brüssel, um zu dienen – nicht um zu lenken. Spätestens 2024 sollte sie gehen.
Vor zwei Jahren hat Ursula von der Leyen ihr Amt als EU-Kommissionspräsidentin angetreten. Ich bereue es, sie gewählt zu haben. Sie war eine Notlösung der Staats- und Regierungschefs, keine Wunschkandidatin des Europäischen Parlaments. Konfrontiert mit Trumps Zoll-Wut, europaweiten Klima-Demos und dem Austritt Großbritanniens aus der EU, war eine monatelange Handlungsunfähigkeit der EU-Kommission jedoch keine verantwortbare Alternative.
Von der Leyens Bewerbungsrede überzeugte mich letzten Endes; ihre Ankündigungen waren vielversprechend, und ich habe ihr den Neustart als Vollbluteuropäerin und Brüssel-Heimkehrerin abgekauft. Sie wollte dem Europäischen Parlament ein Initiativrecht für neue Gesetze geben, die EU zum geopolitischen Player neben China und USA aufwerten und bei der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in der EU keine Kompromisse eingehen.
Aus heutiger Sicht ist klar: Es waren leere Versprechungen, nicht mehr als einstudierte PR-Worthülsen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen rückblickend betrachtet meilenweit auseinander. Von der Leyen blieb eine Ankündigungsmeisterin: viel Schein, wenig Sein.
Das augenscheinlichste Versagen ihrer bisherigen Amtszeit war die vermasselte Impfstoffbeschaffung während der Coronakrise. Wie man es aus von der Leyens Berliner Zeit kannte, wurde jeder neu abgeschlossene Vertrag mit Impfstoffherstellern groß öffentlich zelebriert. Bei der Festlegung der Verhandlungsstrategie sollten Berliner Fehler und ein neuerlicher Beschaffungsskandal jedoch offensichtlich um jeden Preis vermieden werden. Die EU-Kommission konzentrierte sich deshalb übertrieben stark auf die Reduktion der Impfstoffkaufpreise, statt – wie wirtschaftlich und moralisch geboten – die schnellst- und größtmögliche Impfstofflieferung herauszuverhandeln.
Die persönliche politische Absicherung und das Vermeiden bekannter Fehler waren von der Leyen wichtiger als das schnelle Ende der Lockdowns und ein rasches Sinken der Sterbezahlen. Die darauffolgende europaweite Entrüstung saß sie unbeirrt aus, und bereits wenige Monate später hatte sie die Dreistigkeit, sich für das Erreichen des EU-Impfziels von 70 Prozent öffentlich feiern zu lassen. Die Tatsache, dass in Portugal die Impfquote bei 85 und in Bulgarien bei 20 Prozent liegt und somit dem Erreichen des Impfziels offensichtlich keine europäische Strategie zugrunde lag, war ihr in ihrem Selbstvermarktungsdrang vollkommen egal.
Bereits vor der Corona-Krise hatte sich das Versprechen von der Leyens, die Ideen des Europäischen Parlaments automatisch als Gesetzesinitiativen vorschlagen zu wollen, als Mogelpackung erwiesen. Wie von Medien aufgedeckt, wurde das von ihr im Plenum öffentlich artikulierte und beworbene Initiativrecht schon wenige Wochen später kommissionintern deutlich herabgestuft. Statt rechtskonforme Parlamentsforderungen automatisch als Gesetze vorschlagen zu wollen, hat sich die Kommission in ihren internen Regelungen lediglich dazu verpflichtet, die Parlamentsforderungen unverbindlich prüfen zu wollen.
Man kann das als typische Politikerlüge abtun. Die Bedeutung dieses Betrugs geht aber tiefer. Man hat den Wählern bei der Europawahl Spitzenkandidaten präsentiert und dann aber doch von der Leyen, die gar nicht angetreten war, die Führung übertragen. Sie hat als Nichtkandidatin versprochen, die demokratische Legitimation zu wahren, indem sie die Initiativen der Vertreter der Wähler automatisch umsetzen wird – und dieses Versprechen dann in einen bloßen Prüfauftrag umgewandelt. Die Bürger wurden wiederholt bewusst für dumm verkauft und der demokratischen Legitimation der EU damit langfristiger Schaden zugefügt. Zur Absicherung ihrer Macht war von der Leyen offensichtlich ohne Zögern bereit, diesen Preis in Kauf zu nehmen.
Auch das versprochene Ziel, die EU zum geopolitischen Player zu machen, ist nie mehr als ein Slogan geblieben. Die europäische Außenpolitik ist ein Scherbenhaufen. Das strategische Verhältnis zu China ist ungeklärt, das von der EU-Kommission verhandelte Investitionsabkommen liegt auf Eis. Die Beziehungen zwischen Moskau und Brüssel sind frostiger denn je, weder die Russen noch die Türken scheuen sich, die EU und ihre Vertreter öffentlich vorzuführen. Die USA und die EU fremdeln auch nach dem Wahlsieg Bidens miteinander, und die Amerikaner zögern keine Sekunde, ihre Interessen auch auf Kosten der Europäer durchzusetzen.
Von der Leyen zeigt sich zu all dem mal besorgt, mal bestürzt, dann wieder sagt sie, das sei nicht akzeptabel. Das ist keine Außenpolitik. Von der Leyen ist nicht weltpolitikfähig, unter ihrer Führung wird die EU kein geopolitischer Player.
Man könnte auch ausgiebig von der Leyens Wirtschaftspolitik, ihre Klimapolitik oder ihre Brexit-Politik kritisieren. Ihr schwerwiegendstes Versagen war jedoch ihr Nichtstun bei der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in der EU. Ungarn und Polen wurden schon vor dem Amtsantritt der Kommissionspräsidentin von Rechtsstaatsignoranten regiert. Doch während die Kommission ihres Vorgängers Jean-Claude Juncker noch bemüht war, Sanktionen gegen Polen in Gang zu setzen, hat von der Leyen das Merkel’sche Autokraten-Appeasement zu ihrem persönlichen Polit-Credo erkoren.
Sie reizt ihre rechtlichen Spielräume über das maximal Verantwortbare hinaus, um dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und Polens starkem Mann Jaroslaw Kaczyński spürbare Konsequenzen zu ersparen. Von der Leyens Bereitschaft, den seit Januar verfügbaren Rechtsstaatsmechanismus solange nicht anzuwenden, bis die Klagen von Orbán und Kaczyński gegen dieses Instrument rechtskräftig entschieden sind, bedeutet eine moralische und institutionelle Selbstbeschneidung, unter der die EU noch lange leiden wird. Die Peinlichkeit, deshalb vom Europäischen Parlament verklagt zu werden, nahm von der Leyen schulterzuckend in Kauf.
Sie will als Kommissionspräsidentin offensichtlich nicht Hüterin der Verträge sein, sondern Nationalstaatenbefriedigerin. Sie sieht sich nicht als die politische Führerin Europas, sondern als die EU-Ministerin der 27 Regierungschefs, als die loyale Gehilfin, die sowohl Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Merkel als auch Orbán und Kaczyński von Anfang an in ihr gesehen haben. Sie ist keine Lobbyistin der Bürger, sondern die Verkörperung des vorauseilenden Gehorsams. Solch eine EU-Chefin brauchen wir nicht. Spätestens 2024 sollte Schluss sein.