Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Konstantin Kuhle gab „Tagesspiegel Online“ das folgende Interview. Die Fragen stellte Felix Hackenbruch:
Frage: Herr Kuhle, in der Ukraine intensiviert Russland seine Angriffe. Berichte über den Beschuss von Zivilgebäuden mehren sich, laut UN sind bereits eine Millionen Ukrainer auf der Flucht. Mit welchen Auswirkungen müssen wir rechnen?
Kuhle: Der barbarische Angriffskrieg Russlands führt zu Fluchtbewegungen in die Nachbarstaaten der Ukraine, aber auch nach Deutschland und in andere EU-Staaten. Das Ausmaß dieser humanitären Katastrophe ist noch nicht voll absehbar. Ich kenne Schätzungen, die von bis zu sieben Millionen Vertriebenen ausgehen, aber realistische Zahlen wird es wohl erst in Monaten geben. Fakt ist: Die Brutalität nimmt zu, deswegen verstärken sich auch die Fluchtbewegungen. Und das führt zu einer moralischen Pflicht zu helfen.
Frage: Im Moment helfen vor allem die Nachbarländer, besonders Polen.
Kuhle: Es gibt eine große Aufnahmebereitschaft in der polnischen Gesellschaft, weil schon jetzt viele Ukrainer in dem Land studieren, arbeiten oder Verwandte haben. Die Hauptlast der Vertriebenenbewegung wird aktuell von Polen getragen. Das muss man sehr stark respektieren und anerkennen. Die Aufgabe Deutschlands und der EU wird es sein, die polnische Regierung und Gesellschaft zu unterstützen.
Frage: Innenministerin Nancy Faeser hat angekündigt, dass die EU-Innenminister die Massenzustrom-Richtlinie beschließen werden. Flüchtlinge aus der Ukraine können dann ohne Asylverfahren vorübergehenden Schutz in der EU für bis zu drei Jahre bekommen. Öffnen die EU jetzt ihre Tore?
Kuhle: Die FDP-Fraktion und die ganze Bundesregierung unterstützen den Weg der Innenministerin. Dieses Instrument ist nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien eingeführt worden und seitdem nicht zum Einsatz gekommen. Menschen, die verzweifelt aus einem Kriegsgebiet fliehen, sollten schnell und unbürokratisch Hilfe bekommen, ohne ein aufwändiges Asylverfahren zu durchlaufen.
Frage: Schafft man mit der Aktivierung der Massenzustroms-Richtlinie nicht einen Präzedenzfall für Konflikte und Kriege in der Zukunft?
Kuhle: Wir wenden jetzt ein Rechtsinstrument an, das genau für diesen Fall konzipiert wurde. Nämlich einen Krieg in Europa, der zu so einer massiven Vertreibung von Menschen führt, dass wir nicht die Zeit haben, ein ausführliches Asylverfahren durchzuführen. Deshalb ist die Aktivierung der Richtlinie jetzt richtig und wird sich bei anderen Konflikten in der Welt nicht automatisch wiederholen.
Frage: Die Massenzustrom-Richtlinie bedeutet auch, dass es keinen fairen Verteilerschlüssel innerhalb der EU geben und Polen die Hauptlast tragen wird.
Kuhle: Mit der Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie ist ein Solidaritätsmechanismus verbunden. Die EU-Mitgliedsstaaten werden sich gegenseitig unterstützen. Trotzdem ist zunächst Polen besonders in der Verantwortung, weil es dort eine familiäre, sprachliche und kulturelle Nähe zur Ukraine gibt. Wir stehen noch ganz am Anfang des Krieges und werden auch Flüchtlingsströme in andere EU-Staaten erleben. Ich rechne zudem damit, dass wir nicht nur Vertriebene aus der Ukraine aufnehmen müssen.
Frage: Was erwarten Sie?
Kuhle: Durch unsere wirtschaftlichen Sanktionen gegen die russische Föderation erfahren immer mehr Menschen in Russland vom Krieg in der Ukraine und den Gräueltaten, die Wladimir Putin dort befiehlt. Schon jetzt formiert sich Protest im Land. Es wird vorkommen, dass jetzige oder ehemalige Angehörige des russischen Sicherheitsapparats oder staatlicher Behörden entscheiden, das Land zu verlassen. Diesen Menschen sollte die EU in Aussicht stellen, dass eine bevorzugte Bearbeitung ihrer Asylverfahren in Betracht kommt. Wer den Mut hat, sich in Russland gegen Putins Regime zu stellen, der muss Asyl in der Europäischen Union bekommen.
Frage: Auf der griechischen Insel Lesbos wurden am Dienstag sechs Leichen angespült, jährlich sterben Tausende auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer. Unterscheiden wir jetzt zwischen guten und schlechten Flüchtlingen?
Kuhle: Diese Sichtweise lehne ich entschieden ab. Die Situation auf den griechischen Inseln ist inakzeptabel, ich war vor Corona selbst auf Lesbos. Das war beschämend. Das menschliche Leid ist das gleiche, das Bedürfnis und die Pflicht zu helfen, ist auch gleich. Aber die faktische Situation für die Menschen aus Afghanistan und Syrien unterscheidet sich in der aktuellen Situation. Die Ukraine grenzt direkt an unsere EU-Außengrenze, mit Polen haben wir als Nachbar- und Transitstaat einen verlässlicheren Partner als es die Türkei für Syrien ist.
Frage: Im Koalitionsvertrag setzen sich die Ampel-Parteien für eine „grundlegende Reform des europäischen Asylsystems“ ein. Bislang bremsten vor allem östliche EU-Staaten. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für die Reform?
Kuhle: Die Situation zeigt, dass die Europäische Union bei der Migrationspolitik in einem Boot sitzt. Wenn man Interesse an offenen Binnengrenzen der EU hat, dann kann man diese nur dauerhaft aufrechterhalten, wenn man ein gemeinsames Migrations- und Asylsystem hat. Da müssen wir jetzt schneller vorankommen als das in der Vergangenheit der Fall war. Für Deutschland bleiben unsere Ziele aus dem Koalitionsvertrag richtig: Wir müssen Asylverfahren beschleunigen und mehr Kapazitäten für Menschen schaffen, die wirklich Hilfe brauchen. Deswegen sollten wir jetzt zügig den im Koalitionsvertrag geplanten Sonderbevollmächtigen einsetzen, der sich um Migrationsabkommen mit den Herkunftsstaaten kümmern soll, aus denen bestimmte Menschen in Deutschland bislang kein Bleiberecht erhalten. Ich würde es begrüßen, wenn sich das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium bei der Personalie für dieses Amt schnell einigen würden.
Frage: Die Innenministerin hat angekündigt, ukrainischen Vertriebenen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu vereinfachen. Ist das eine Maßnahme, um unseren Fachkräftemangel zu bekämpfen?
Kuhle: Ich warne davor, in dieser Kriegssituation die Frage des humanitären Schutzes mit Fragen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels zu vermischen. Jetzt geht es darum, Menschen zu helfen und ihnen Schutz zu gewähren. Sie sind auf der Flucht vor einem furchtbaren Angriffskrieg. Wir werden aber sehen, dass manche Menschen, die jetzt kommen, auch nach Kriegsende in Deutschland bleiben werden. Für diese Personen ist es sinnvoll, möglichst schnell Teilhabemöglichkeiten zu schaffen. Das bedeutet einen Weg zum Arbeitsmarkt, vor allem aber auch einen Zugang zu Bildung.
Frage: Im Koalitionsvertrag steht, dass Geflüchteten von Anfang an Integrationskurse angeboten werden sollen. Haben wir dafür genug Kapazitäten?
Kuhle: Nach meiner Wahrnehmung sind Kommunen, Ländern und zuständige Bundesbehörden zu allen organisatorischen Fragen im Austausch. Unsere Erfahrungen von 2015 helfen uns auch, dass wir nötige Strukturen aufbauen können. Wichtig ist, dass wir die Kommunen nicht allein lassen. Denn die Hauptintegrationsarbeit wird immer von den Leuten vor Ort geleistet.
Frage: Stichwort 2015: Damals gab es anfangs eine große Willkommenskultur, dann kippte die Stimmung. Was muss getan werden, damit sich das nicht wiederholt?
Kuhle: 2015 hatten viele Menschen das Gefühl, dass Einreise und Registrierung der Geflüchteten ungeregelt geschahen. Dieses Mal ist die Situation eine andere. Ukrainer können schon heute mit biometrischem Pass ohne Visum in die EU einreisen.
Frage: Hierzulande gibt es eine große russische Community. Befürchten sie Spannungen, wenn viele Ukrainer jetzt nach Deutschland fliehen?
Kuhle: Dieser Konflikt darf nicht auf der Straße in Deutschland ausgetragen werden. Wir müssen verhindern, dass es zu Konfrontationen dieser Gruppen kommt. Dafür ist es wichtig, dass wir offen kommunizieren, dass Menschen russischer Herkunft nicht für den Angriffskrieg in der Ukraine verantwortlich sind. Der Aggressor sitzt im Kreml und heißt Wladimir Putin. Das müssen wir kommunikativ klarstellen, auch indem deutsche Behörden Informationen in russischer und ukrainischer Sprache bereitstellen. Putins Propaganda darf nicht in Deutschland verfangen. Da dürfen sich unsere Behörden nicht zu fein sein, Informationen mehrsprachig zur Verfügung zu stellen.